29.10.2021

Architektur Event

Salon Suisse 2021: Raus aus dem Silo

Angler in der Lagune.

Angler in der Lagune. Foto: Samuele Cherubini

Die Architekturbiennale ist zwar eine der wichtigsten Veranstaltungen, die dieses Jahr in Venedig stattfinden. Mit der Stadt selbst hat die Ausstellung aber nur am Rande zu tun. Der Salon Suisse 2021, die Begleitveranstaltung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, sucht dagegen die Auseinandersetzung mit dem Veranstaltungsort. Das kommt gut an. 

Angler in der Lagune.
Angler in der Lagune. Foto: Samuele Cherubini
Aufbruch zur Bootsexkursion, die der Salon Suisse 2021 in die Lagune von Venedig unternommen hat. Foto: Samuele Cherubini

Ilaria und Savino sind etwas beunruhigt. Die beiden Biobauern von der Gemüseinsel Sant’Erasmo in der Lagune von Venedig hatten mit 60 Besuchern gerechnet, vielleicht 80. Aber 100! Die beiden Betreiber der „i&s Farm“, des einzigen voll biologisch arbeitenden landwirtschaftlichen Betriebs auf Sant’Erasmo, haben sich bereiterklärt, ein Picknick mit ihren Produkten für die Exkursionteilnehmer des Salon Suisse 2021 zu veranstalten. Dass die Bootstour in die Lagune auf derartigen Anklang stoßen würde. Damit hatten weder die Organisatoren noch das Bauernpaar gerechnet. Doch am Ende ist alles kein Problem. Essen und Wein gibt es reichlich und wie sich zeigt ist auch die Platzfrage schnell gelöst. Die Sonne strahlt und wer keinen Stuhl an den Tischen findet setzt sich kurzerhand ins Gras. Schließlich handelt es sich um ein Picknick.

Das Gemüsebeet Venedigs: Die Insel Sant'Erasmo ist berühmt für ihre Gemüseproduktion. Foto: Samuele Cherubini
Picknick in der Lagune: Biogemüse von Sant'Erasmo. Foto: Samuele Cherubini
Feldforschung: Die Exkursionsteilnehmer auf Sant'Erasmo. Foto: Samuele Cherubini

Ökologisches Gleichgewicht gefährdet

Die Tagesexkursion, die der Salon Suisse an seinem zweiten Veranstaltungswochenende 2021 durchführt, steht unter der Überschrift „The State of the Lagoon“. Der Berner Architekturprofessor Stanislas Zimmermann und Tiberio Scozzafava-Jaeger, Raumplaner und einer der profundesten Kenner des empfindlichen Ökosystems der Lagune, wollen den Teilnehmern demonstrieren, wie vielseitig, aber auch wie veränderlich das Gewässer ist, das Venedig umgibt.

Was sie gleich zu Beginn ihren Zuhörern erklären: Die Lagune in ihrer bestehenden Form ist das Ergebnis jahrhundertealter Wasserbau-Ingenieurskunst der Venezianer. Denn lange war die große Befürchtung der Stadtbewohner, dass die Lagune, die die Grundlage ihrer Sicherheit und ihres Wohlstandes bildet, verlanden könnte. Deshalb begannen sie schon im Mittelalter, die geröllreichen Gebirgsbäche, die in die Lagune flossen, umzuleiten. Die Mündung der Brenta etwa wurde von den Venezianern aus diesem Grund mehrfach verlegt. Im 21. Jahrhundert leidet die Lagune unter dem genau gegenteiligen Problem: Für die riesigen Kreuzfahrtschiffe und die Hochwasserbarriere MO.S.E. sind die Öffnungen der Lagune zur Adria verbreitert und vertieft worden. Dadurch hat die Erosion in der Lagune merklich zugenommen. Das gefährdet das ökologische Gleichgewicht empfindlich.

Blick auf die malerische Insel Burano. Foto: Samuele Cherubini
Der schiefe Turm prägt das Stadtbild von Burano. Foto: Samuele Cherubini
Der Anlegesteg in Lazzaretto Nuovo. Foto: Samuele Cherubini

Lazzaretto Nuovo: die erste Quarantänestation der Welt

Die „MS Palladio“ nimmt Kurs auf Lazzaretto Nuovo. Das kleine Eiland ist in besonderer Weise ein Spiegel der venezianischen Geschichte. Von der Zeit der frühen Besiedlung in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends zeugen die ausgedehnten Salzmarschen, die die Insel umgeben. Denn Salz war anfangs das wichtigste Erzeugnis und Handelsgut der Laguneninseln. Das war lange bevor rund um den Rialto das heutige Venedig entstand. Ein Lehrpfad führt rund um die Insel und erläutert die Besonderheiten des heimischen Biosystems. Als ein halbes Jahrtausend später die Serenissima zur bedeutendsten Handelsmacht des Mittelmeers aufgestiegen war, erhielt die Insel eine neue Bestimmung, von der ihr heutiger Name kündet.

Hier wurde die erste Quarantänestation der Welt eingerichtet. Jedes Schiff, das Venedig anlaufen wollte und das im Verdacht stand, eine Seuche in die Stadt zu tragen, musste zunächst Lazzaretto Nuovo ansteuern. Hier wurden dann Mannschaft und Ladung vierzig Tage (Quaranta bedeutet Vierzig) isoliert. Von den einst ausgedehnten Anlagen steht heute nur noch der große Warenspeicher. In seinem Innern sind die Wände mit Graffiti überzogen. Arbeiter haben die Texte und Zeichnungen hinterlassen, die im 15. und 16. Jahrhundert dort eingeschlossen waren, um die Schiffsladungen zu desinfizieren. Die Insel, einstmals ein Ort von Furcht und Ungewissheit, ist heute ein idyllisches Fleckchen, auf das sich nur wenige Touristen verirren. Es gibt keinen Linienverkehr dorthin. Der direkte Transfer nach Lazzaretto Nuovo ist also ein seltenes Privileg der Exkursionsteilnehmer.

Künstlerwohnung auf Zeit im Palazzo

Bereits am ersten Veranstaltungswochenende im September hatte der Salon Suisse seltene Einblicke gewährt – in diesem Fall in die Lebenswelten der (Stadt-)Venezianer. Die Organisatoren hatten eine Besichtigung von fünf gleichermaßen typischen wie unterschiedlichen Wohnstätten in Venedig auf die Beine gestellt. Die Tour führte von einem kaum 20 Quadratmeter großen Apartment, wie es sich viele Berufsanfänger gerade noch leisten können, zu einem der inzwischen 40.000 Airbnbs der Stadt. Sie sind ein Grund, warum Wohnraum in Venedig so knapp ist. Die Anzahl der Ferienwohnungen in der Stadt hat sich, so war bei der Besichtigungstour zu erfahren, in den letzten Jahren vervierfacht.

Künstlerwohnung in einem venezianischen Palazzo - ein Ziel der ersten Exkursion des Salon Suisse 2021. Foto: Samuele Cherubini
Unterwegs zu den Lebenswelten der Venezianer: Teilnehmer des Salon Suisse 2021. Foto: Samuele Cherubini
Venedig im Fokus: Der Salon Suisse erkundet Stadt und Stadtraum. Foto: Samuele Cherubini

Letzter Salon Suisse 2021 im November

 

Weiter ging es nach Santa Elena, gleich hinter dem Kreuzfahrthafen gelegen. Das Viertel hat sich in den letzten Jahrzehnten vom Arbeiterquartier zu einer beliebten Wohngegend für Studenten und den Mittelstand gewandelt – denn weil Venedig hier relativ „unvenezianisch“ ist, hält sich das Interesse von Touristen und Spekulanten in Grenzen. Im katholischen Studentenwohnheim „Domus Civica“ im Sestriere San Polo räumen die Studierenden ihre Einzel- und Doppelzimmer während der Semesterferien. Ihre Räume werden dann an Touristen vermietet. Letzter Halt: Eine Stipendiatenwohnung in einem venezianischen Palazzo. Die Schweizer Forberg-Stiftung stellt das prachtvolle Sechszimmerappartement im Palazzo Castelforte direkt bei der Scuola Grande di San Rocco Künstlern für mehrmonatige Aufenthalte zur Verfügung.

Am letzten Veranstaltungswochenende des Salon Suisse 2021 im November wird eine weitere Exkursion in den Stadtraum stattfinden, dann mit der Performancekünstlerin Davide-Christelle Sanvee. Dabei steht die persönliche künstlerische Auseinandersetzung mit der Stadt im Mittelpunkt. Noch mehr als bei den beiden vorhergehenden Touren trägt der Salon Suisse so die Auseinandersetzung mit Kunst und Architektur aus dem „Silo“, den steng umgrenzten Orten der Kultur, auf die Gassen, Plätze und Kanäle Venedigs.

Dieser Beitrag ist mit freundlicher Unterstützung der Laufen Bathrooms AG entstanden. Das Unternehmen ist bereits seit 2012 Hauptförderer des Salon Suisse der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. 

Salon Suisse 2021: „Bodily Encounters“

November-Salon: „Alterations“

18. bis 20. November 2021

Palazzo Trevisan degli Ulivi

Campo S. Agnese, Dorsoduro 810

Venedig

prohelvetia.ch 

Lesen Sie hier das Interview mit Evelyn Steiner, der Salonière des diesjährigen Salon Suisse.

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