DREI DEUTSCHE PLANSTÄDTE IN CHINA – EINE VORSCHAU
Im dritten Beitrag unserer fünfteiligen Serie zu Planstädten in China stellt Dieter Hassenpflug zunächst kurz die drei Projekte vor, die in der Folge Gegenstand seiner Betrachtungen hier im Baumeister-Blog sein werden. Unter der allgemeinen Fragestellung “Deutsche Planstädte in China – ein interkulturelles Missverständnis?” wendet er sich sodann der Analyse des Chinesisch-Deutschen Ökoparks in Qingdao zu. Es ist das erste der drei Neustadtprojekte, deren Entwürfe auf deutsche Architekten und Städtebauer zurückgehen.
Beginnen wir mit einem kurzen Rückblick: Unter der Überschrift “Chinesische Neustädte I: Panjin Hafen Neustadt” bot der erste Beitrag unserer fünfteiligen Serie einen westlichen Blick auf die Planstadt an der nördlichen Liaodong Bucht. An diesem Projekt des Tianzuo-Studios an der Jianzhu-Universität Shenyang und seines Chefs Lingling Zhang ließ sich demonstrieren, wie der zeitgenössische chinesische Städtebau sich einerseits alle aktuell global verfügbaren fachlichen Techniken, Materialien, Gestaltungsmöglichkeiten usw. aneignet, um diese jedoch andererseits in die Formen der reichen chinesischen Städtebau-Tradition zu gießen.
Wie bereits im Interview im Baumeister-Magazin Nr. 5, 2019 hervorgehoben, fällt das hohe Maß an “Reflexivität” im chinesischen Städtebau ins Auge, das heißt die überaus enge Verzahnung von Tradition und Moderne im Medium des Städtebaus. Mögen die Chinesen so modern gestalten und bauen, wie nur irgendwie möglich, so nehmen sie doch immer ihre Geschichte und ihre Traditionen mit in die Zukunft. So entstehen Städte mit ausgeprägter chinesischer Identität: Städte, die nichts anderes sind, als eine zeitgemäße Verräumlichung eines großen kulturellen Gedächtnisses.
Die zweite Veröffentlichung der Artikelserie bestätigte diese Reflexivität auf eindrucksvolle Weise. Geschrieben wurde sie von Lingling Zhang, dem Masterplaner der Neustadt an der Liaodong-Bucht und zugleich auch der Entwerfer von über 80 öffentlichen Gebäuden dieser Hafenstadt. Hauptthema seines Manifests war die Beantwortung der Frage, wie sich der Entwurf einer chinesischen Planstadt im Ganzen und in ihren Teilen in den – natürlichen und kulturellen – lokalen, regionalen und nationalen Kontext integrieren lässt.
So weit der kurze Rückblick. Unter dem Titel “Deutsche Planstädte in China – ein interkulturelles Missverständnis?” wendet sich unser Autor Dieter Hassenpflug nun drei weiteren Projekten zu, deren Masterpläne auf Entwürfe deutscher Architekten und Städtebauer zurückgehen: der Chinesisch-Deutsche Ökopark in Qingdao von GMP, Anting-Neustadt von AS+P im Westen Shanghais und Lingang von GMP im Südosten Shanghais.. Zwar wurden diese Planstädte von deutschen Architekten entworfen, unter deutscher Beteiligung geplant und zum Teil auch gebaut, andererseits unterscheiden sie sich konzeptionell, gestalterisch und auch hinsichtlich der vorgesehenen Zahl der Einwohner stark voneinander.
Alle drei Neustadtplanungen aus deutscher Feder stehen allerdings in der Gefahr, sich mittelfristig zumindest partiell als Fehlplanungen zu erweisen. Der intellektuelle Reiz hingegen, sich gerade mit solchen „bedrohten“ Projekten aus städtebautheoretischer Sicht zu befassen, liegt darin, dass man dabei sehr viel über Unterschiede im chinesischen und deutschen Städtebau lernen kann. Denn in diesen deutsch-chinesischen Neustädten verräumlichen sich soziokulturelle Tatbestände auf eine Weise, die die zum Teil extremen Differenzen zwischen der deutschen und chinesischen Gesellschaft – und damit auch zwischen ihren Städten – ebenso deutlich wie konflikthaft hervortreten lassen.
Eine nachhaltige Planstadt für Qingdao
Das erste der in den drei folgenden Beiträgen evaluierten Städtebauprojekte mit deutschen Wurzeln wurde mit hohen Ansprüchen an eine nachhaltige Stadt und zudem mit höchster politischer Anteilnahme im Jahr 2010 auf den Weg gebracht. Es handelt sich um das Neustadtprojekt “Chinesisch-Deutscher Ökopark” (“Sino-German Eco Park”) von GMP in Qingdao. Der Grundstein wurde Ende 2011 gelegt.
Während seither südwestlich der Jiaozhou Wan (Bucht) rund um das futuristisch anmutende Verwaltungs- und Organisationszentrum (auch “Technologiezentrum”) neue Stadtquartiere aus dem Boden gestampft werden, bröckelt auf der nordöstlichen Seite der Bucht jene deutsche Stadt vor sich hin, die für die Standortwahl der “Sino-German Eco City” mit entscheidend war. Gemeint ist die einstige deutsche und japanische Kolonialstadt Tsingtau, die mit den Jahren entweder durch Verfall oder durch chinesische Überformung zu verschwinden droht. Zwar gibt es einzelne Gebäude, die restauriert, saniert und auf die eine oder andere Art genutzt werden, doch für die Kolonialstadt als Ganze, für die europäische Integrität der räumlichen Textur, scheint – immer noch – jede Perspektive zu fehlen.
Jenseits der Bucht hingegen arbeitet man daran, ein für den chinesischen Städtebau beispielgebendes Modell für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu realisieren. Die Analyse des Projekts offenbart jedoch, dass Anspruch und Wirklichkeit dieser Planstadt wohl nur mühsam in Übereinstimmung gebracht werden können. Einen Grund dafür könnte der Masterplan liefern, der mit seiner dispersen Anordnung von Quartieren die Herausbildung eines lokalen Stadtzentrums behindert – und damit auch die Schaffung einer nachhaltigen kompakten “Stadt der kurzen Wege” chinesischen Typs. Doch bevor wir uns diesem Projekt zuwenden zunächst noch ein Blick auf zwei weitere deutsche Projekte in China.
Eine deutsche Stadt in Shanghai
Zum zweiten Projekt: Etwa fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich Anting Neustadt erstmals besuchte. Die auf eine Einwohnerzahl von etwa 60 tausend Einwohner ausgelegte Planstadt befand sich damals im Bau. Beim Gang über die Baustelle wunderte ich mich über die aus Betonplatten zusammengefügten Satteldächer und bewunderte die für damalige chinesische Verhältnisse ambitionierte Klimatechnik. Keineswegs jedoch ahnte ich zu jener Zeit, welch tiefgreifenden Auswirkungen die wissenschaftliche Erkundung dieser Stadt auf meine Kenntnisse vom Städtebau in China noch haben würde.
Vor gut zehn Jahren, in 2007, hatte ich ein zweites Mal Gelegenheit, der “deutschen Stadt” einen Besuch abzustatten. Der erste Bauabschnitt war, mit Ausnahme des Stadtzentrums, fertiggestellt und die räumlichen Charakteristika traten klar zutage. Die Untersuchung Antings lieferte allerdings eine überaus pessimistische Prognose für die Zukunft der Neustadt. Publiziert wurden die Forschungsresultate erstmals in dem 2009 in der Reihe “Bauwelt Fundamente” des Birkhäuser Verlags erschienenen Buch “Der urbane Code Chinas”. Gestützt auf stadtsemiotische Methoden der Entschlüsselung des Raums wurde ausführlich hergeleitet, weshalb kaum zu verhindern sein wird, dass Anting Neustadt das Schicksal einer Geisterstadt droht. Der Baustopp, der erfolgte, nachdem etwa die Hälfte des verplanten Territoriums überbaut war, schien das pessimistische Urteil vorerst zu stützen.
Nochmals zehn Jahre später, im Oktober 2017, gelang es mir, Anting Neustadt abermals aufzusuchen. Ich wollte wissen, was nach der Aufhebung des seinerzeit verhängten Moratoriums geschah, wie es also mit der “deutschen Stadt” weitergegangen ist. Welche Konsequenzen wurden gezogen? Hatte die verbesserte Anbindung an das Zentrum von Shanghai nachvollziehbar positive Auswirkungen? Konnten durch den Weiterbau der Stadt und durch den Bau zahlreicher Nachbarschaften in unmittelbarer Nähe zur Neustadt Impulse für die Besiedlung leerstehender Wohnungen ausgelöst werden? Hatte die Bereitstellung von sozialer Infrastruktur, von Kindergärten oder Schulen den erhofften Einfluss auf die Wohnungsnachfrage? Konnte die Zeit, die ja angeblich städtebauliche Wunden zu heilen vermag, auch im Falle Antings ihre Wirkung entfalten? Wir werden sehen.
Idealstadt Lingang in Shanghai
Zum dritten und letzten Projekt unserer Reihe: Die Planstadt Lingang wurde von GMP für circa 800 tausend Einwohner im Stile einer radialkonzentrischen Idealstadt der Renaissance entworfen. Dabei bilden allerdings nicht Markt oder Schloss das Zentrum, sondern ein kreisrunder See mit einer Uferlänge von stattlichen 9 Kilometer. Dieser wiederum wird von einer ringförmigen Innenstadt umzogen. Ein wenig erinnert dieser Entwurf auch an die berühmte Zeichnung einer radialkonzentrischen Gartenstadt mit parkartigem Zentrum von Ebenezer Howard. Lingang, so die Intention der lokalen Akteure aus Planung und Politik, soll das Zentrum einer neuen Sonderwirtschaftszone werden.
In 2006 hatte ich erstmals Gelegenheit, in Begleitung des damaligen Dekans des ‘Centre for Architecture and Urban Planning’ (CAUP), Prof. Dr. Zhiqiang Wu, das im Shanghaier Bezirk Nanhui (heute Teil von Pudong) lokalisierte Projekt in Augenschein zu nehmen. Die Übertragung eines kleinmaßstäblichen Bildes auf den städtebaulichen Maßstab einer Millionenstadt könne Probleme mit sich bringen, räsonierte Wu damals unter Verweis auf ein metaphorisches Bild, das für das Marketing des Masterplans extensiv – und offenbar erfolgreich – genutzt wurde. Es zeigt einen fallenden Tropfen, der auf eine flüssige Oberfläche (Wasser) trifft und konzentrische Wellen erzeugt. Auf diese Weise entsteht jene streng geometrische, radialkonzentrische Form, die den Entwurf von Lingang vorgeblich inspirierte.
Die Rezeption städtischen Raums unterscheidet sich gewiss fundamental von derjenigen eines vergleichsweise winzigen mesokosmischen Ereignisses. Es wird sich jedoch zeigen, dass weniger das Zoomen eines fallenden Wassertropfens ein Problem birgt, sondern vielmehr die soziokulturell bedingte Unvereinbarkeit von europäischer und chinesischer (Ideal)Stadt.
Die Bauarbeiten hatten damals gerade begonnen und auch ein Jahr später, als ich Lingang Neustadt erneut aufsuchte, waren die Arbeiten noch nicht hinreichend fortgeschritten, um eine Analyse und Bewertung für den oben genannten Band zu rechtfertigen. Nun jedoch, im ausgehenden Jahr 2017, bot der Baufortschritt genug Material für eine erste Bewertung. Lingang, so lässt bereits eine Analyse des Masterplans vermuten – und diese Analyse wird durch die Begehung vor Ort bestätigt – muss, um dem drohenden Schicksal einer desintegrierten Stadt zu entgehen, die europäische, radialkonzentrische Geometrie der Grundstruktur radikal kompromittieren – mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Integrität des Stadtbildes.
DER CHINESISCH-DEUTSCHE ÖKOPARK IN QINGDAO
Die Stadt Qingdao wurde 1897 als koloniale Mustersiedlung des deutschen Kaiserreichs gegründet und in der vergleichsweisen kurzen Zeit bis zum ersten Weltkrieg zu einer ansehnlichen Hafenstadt ausgebaut. Noch heute lassen sich zahlreiche Hinterlassenschaften dieser Anfänge im Zentrum der auf etwa 9,5 Millionen Bewohner angewachsenen Metropole an der Ostküste Shandongs besichtigen.
Wenig überraschend daher, dass Qingdao immer wieder besonderes Interesse bei den Deutschen weckt. Das gilt für den Städtetourismus, für vielfältige Handels- und Geschäftsbeziehungen, für bilaterale Initiativen auf den Gebieten der Bildung und Kultur – aber auch auf denjenigen des Städtebaus und der Stadtentwicklung. So wurde in Gestalt einer hochrangigen Kooperationsvereinbarung zwischen Deutschland und China der Chinesisch-Deutsche Ökopark (“Sino-German Eco Park”) in Qingdao auf den Weg gebracht. Den Gründungsdokumenten zufolge wird erwartet, dass das Projekt sich zu einem Vorbild nachhaltiger Stadtentwicklung mit chinaweiter Ausstrahlung entwickelt. Diesen ambitionierten Vorstellungen entsprechend gaben die Regierungsspitzen beider beteiligten Staaten sich die Ehre bei der Einweihung im Juli 2010: auf Seiten Chinas Premier Wen Jiabao und auf deutscher Seite Kanzlerin Angela Merkel. Bereits wenige Monate zuvor hatte der in China hoch geachtete Kanzler a.D. Gerhard Schröder sozusagen als Botschafter der erwähnten Kooperationsvereinbarung an der Eröffnung eines ‘Forums für erneuerbare Energien’ in Qingdao mitgewirkt.
Beim Chinesisch-Deutschen Ökopark handelt es sich um einen Industrie- beziehungsweise Gewerbepark – allerdings um einen Industriepark der besonderen Art. Um diesen herum wird nämlich eine in funktionaler Hinsicht nahezu komplette Stadt gebaut. In ihr sollen zukünftig auf knapp 12 Quadratkilometer etwa 80 Tausend Menschen leben, die nach Möglichkeit in den Betrieben des Industrieparks arbeiten sollen. Beabsichtigt ist, circa 45 Prozent der Fläche für Gewerbe und öffentliche Infrastruktur zu entwickeln, circa 25 Prozent für Wohnen und Einzelhandel und etwa 30 Prozent als Grün- und Naherholungsraum. Angestrebt wird nicht weniger als eine intelligente, nachhaltige Musterstadt, eine Art von Industriestadt 4.0. Betrieben und vermarktet werden die Flächen von einem chinesischen Staatsunternehmen, der Sino-German United Group Co., Ltd. mit Sitz in Qingdao.
Verwirklicht wird der Industriepark südlich der Jiaozhou Bucht und des Kreuzungsbereichs zweier stark frequentierter Straßen von überregionaler Bedeutung. In Nord-Süd-Richtung verläuft die G22, die mittels einer großen Brücke über die Jiaozhou Bucht das Stadtzentrum mit der südlichen Peripherie verbindet und in Ost-West-Richtung die S7601, eine der wichtigsten Erschließungsstraßen für den nahe der Planstadt gelegenen Großhafen. Darüber hinaus liegt der Chinesisch-Deutsche Ökopark im nördlichen Teil der nationalen chinesischen Sonderwirtschaftszone von Qingdao.²
Der Masterplan für diese Modell-Industriestadt des 21. Jahrhunderts stammt abermals von dem in China sehr erfolgreichen Studio GMP. Wie schon im FalleEine Falle in der Architektur ist ein Mechanismus, der verwendet wird, um eine Tür, ein Fenster oder eine andere Öffnung in einer Position zu halten oder zu verriegeln. Es handelt sich meist um einen Bolzen oder ähnliches, der in eine entsprechende Aussparung greift. Die Falle verhindert, dass die Tür oder… von Lingang Neustadt greift auch dieser Entwurf auf eine bildliche Metapher zurück, um die Fantasie der mit dem Plan befassten Entscheider zu beflügeln – mit offensichtlichem Erfolg. Es handele sich, so die Autoren, bei den nierenförmigen Quartieren um eine Ansammlung von 8 “Kieselsteinen”, die, eingebettet in pittoreskes Grün, die Formen der Berge und der Landschaft Qingdaos reflektieren. Mit Blick auf das Stadtmodell und ohne Kenntnis des Narrativs, das die Schöpfer des Entwurfs diesem zugrunde legen, vermuten Betrachter des in einem Ausstellungsgebäude präsentierten Stadtmodells auch schon mal, es könne sich um Lotusblätter handeln, die auf der Wasseroberfläche eines Sees schwimmen. Wie dem auch sei – auch hier ein ansprechender Entwurf. Doch wie tragfähig ist er, wenn er auf die Wirklichkeit trifft?