Öl, Strandsoden und Reisfelder
Chinas Stadtentwicklung boomt. Doch wie können wir im Westen die neuen Metropolen des Ostens verstehen? Dieter Hassenpflug, Autor des Buches “Der Urbane Code Chinas” (Birkhäuser), behandelt in einer fünfteiligen Serie im Baumeister-Blog diese Urbanisierungsprozesse in interkultureller Perspektive. Im ersten Teil betrachtet er die neue Hafenstadt von Panjin an der Liaodong-Bucht in Nordchina. Es folgen ein Beitrag zur selben Planstadt vom chinesischen Architekten Lingling Zhang und anschließend drei Betrachtungen von Hassenpflug zu Planstädten deutscher Entwerfer in Shanghai und Qingdao.
China denkt groß – und das nicht nur im Städtebau. Die mit der bereits weit in das digitale Zeitalter vorstoßenden ModernisierungModernisierung bezieht sich auf umfangreiche, oft technisch aufwändige Umbaumaßnahmen, um ein Gebäude oder eine Einrichtung auf den aktuellen Stand der Technik zu bringen, die Energieeffizienz zu verbessern und den Komfort zu erhöhen. Dabei können z.B. alte Heizungs- und Lüftungssysteme durch moderne, energieeffiziente Anlagen ersetzt werden, um den Energieverbrauch zu senken…. des Landes einhergehende Hyperurbanisierung giert geradezu nach extensivem Städtebau. So kommt es, dass viele Provinzhauptstädte in den vergangenen Jahrzehnten problemlos um 200 – 300 Tausend Einwohner pro Jahr wachsen konnten und wo immer sich die Gelegenheit dazu bot, wurden und werden ganze Städte mit bis zu 1 Millionen Einwohner aus dem Boden gestampft. Als Treiber der Entwicklung erweist sich zudem, dass die Baubranche in Verbindung mit der Kreditvergabe-Politik als Instrument der nationalen Konjunktursteuerung eingesetzt wird.
Ein in der westlichen Welt viel beachtetes Beispiel einer auf etwa eine Millionen Einwohner ausgelegten Retortenstadt ist Kangbashi unweit des vormaligen Dongsheng, bekannt unter dem Namen Ordos. Ausgelöst wurde der Bau der Planstadt durch die Entdeckung gewaltiger Kohlevorräte. Mit der Kohle war erhoffte man sich einen vielversprechenden wirtschaftlichen Aufschwung in der strukturschwachen Region der Inneren MongoleiDie Mongolei ist ein Land in Zentralasien, bekannt für seine nomadische Kultur und traditionellen Handwerkskünste. Mongolische Teppiche und Filze sind berühmt für ihre feine Verarbeitung und langlebige Qualität.. Zuerst wurden Versorgungs-, Entsorgungs- und Verkehrsinfrastrukturen gebaut. Später kamen dann öffentliche Gebäude, Schulen, Regierungsgebäude, Kultureinrichtungen aller Art und schließlich Wohngebäude hinzu. Heute firmiert Ordos mit seinen teils spektakulär gestalteten öffentlichen Gebäuden, seinen überbreiten, vielstreifigen Stadtstraßen und vor allen mit seinem atemberaubenden Wohnungsleerstand als die berüchtigtste “Geisterstadt”, die China seit der Öffnung hervorgebracht hat.
Die Stadt, die wir im Folgenden betrachten, “Panjin Harbour New Town”, weist in mancherlei Hinsicht Parallelen zu der Neustadt Ordos auf. Das gilt beispielsweise für den Anlass ihrer Erbauung: Auch in Panjin, einer Stadt von circa 1,4 Millionen Einwohner spielte ein Rohstoff eine entscheidende Rolle: nämlich Öl. Zwar wurde dieses schon vor längerer Zeit entdeckt und gefördert, doch die Stadtoberen von Panjin sahen im Abtransport des schwarzen Goldes von einem stadteigenen Hafen eine wirtschaftliche Entwicklungschance, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Obschon mit der unmittelbar an Panjin angrenzenden Millionenstadt Yingkou bereits ein leistungsfähiger Hafen in der Region vorhanden ist (immerhin der zweitgrößte Hafen Liaonings – nach Dalian), will man das eigene Öl auch im eigenen Hafen verschiffen. Doch damit nicht genug. Um den Hafen herum soll eine Stadt entstehen, die zeigt, dass Panjin in der oberen Liga der chinesischen Modernisierer mitzuspielen vermag.
Neben dem Öl existiert in Panjin noch eine weitere Ressource, deren Entwicklungspotenzial aus Sicht der Stadtoberen bislang nicht hinreichend ausgeschöpft wurde: Es handelt sich um eine kleine Strandpflanze, deren sukkulenten Blätter im Sommer und Herbst in ein einem leuchtenden Rot erstrahlen. Diese in deutscher Sprache Strandsode bzw. Salzmelde (suaeda salsa) genannte Pflanze kommt dort, wo der Fluss Shuangtaizi im Westen Panjins in die Liaodong Bucht mündet, in gewaltigen Massen vor und formt auf diese Weise bis an den Horizont eine spektakuläre Küstenlandschaft. Mit ihrer geradezu surrealen Färbung und ihrem außergewöhnlichen Artenreichtum zieht diese nicht nur Chinesen in ihren Bann. Bei Naturliebhabern rund um den Globus gilt die Marsch von Panjin als ein zu schützendes Naturwunder. Den Schatz desselben gilt es touristisch zu heben. So soll Panjins neue Hafenstadt nicht nur der Vermarktung des eigenen Öls, sondern auch der Erschließung des Strandsoden-Küstenpanoramas einen Ausgangspunkt bieten.
Im Herbst 2017 waren 10 Jahre vergangen, als die Präfektur Panjin entschied, die auf 600 Tausend Einwohnern ausgelegte Neustadt in der Nähe der Mündung des östlich verlaufenden Flusses Liao He zu bauen. Dieser Fluss trennt als natürliche Grenze die Gebietskörperschaften von Panjin und Yingkou voneinander. Das renommierte Studio des Centre for Architecture and Urban Planning (CAUP) an der Tongji Universität Shanghai wurde bereits zuvor mit der Fertigung eines strategischen Entwicklungsplans beauftragt. Kurz nach Zugang und Präsentation der Studie beauftragte die Stadt Panjin den Dekan der School of Architecture der Shenyang Jianzhu University Prof. Dr. Lingling Zhang und sein an die Architekturfakultät angegliedertes Tianzuo Designstudio mit der Überarbeitung der CAUP-Pläne und deren Konkretisierung in einem Masterplan und darauf aufbauenden Rahmenplänen.
Zu jener Zeit hielt sich der Autor dieser Schrift auf Einladung des Dekans der Architektur-Fakultät häufiger als Gast an der Shenyang Jianzhu Universität auf. So bot sich ihm die Chance, an der Umsetzung des Planungsauftrags aus Panjin mitzuwirken. Dies betraf insbesondere die Erarbeitung der konzeptionellen und strategischen Grundlagen des Masterplans. Die Kooperation fand ihren Niederschlag in einem 20 Punkte umfassenden Papier mit dem Titel „Compilation of basic assumptions for Plan 1“.
In Plan 1 wurden (im Unterschied zu Plan 2) bereits vorzeitig durch die Präfektur Panjin veranlasste Verkäufe von Landnutzungsrechten und auf diese Weise ausgelöste Bauaktivitäten ignoriert. Gestützt auf Forschungsergebnisse, die kurze Zeit später in dem Buch “Der urbane Code Chinas” publiziert wurden, schlug der Gast unter anderem folgendes vor: 1. eine Verlegung des vom CAUP vorgeschlagenen Hafengeländes an der Mündung des Liao He weiter nach Westen und im Gegenzug eine Verlagerung der im Westen vorgesehenen städtischen Zentralachse nach Osten. Und während der Plan der Tongji-Universität Shanghai vorsah, die Zentralachse in dominanter Weise mit pittoresken Gärten auszustatten, plädierte er für einen markant urbanen, durch eine hierarchische Ordnung öffentlicher Gebäude charakterisierten Boulevard.
Im September 2017, zehn Jahre nachdem die Entscheidung der Stadt Panjin für die Entwicklung der neuen Hafenstadt erging, luden Panjin und das Tianzuo Studio gemeinsam zu einer Jubiläumsveranstaltung in die neue Stadt “Liaodong Bay New Area” (Panjin Harbour New Town) ein. Die Mitwirkung an dieser Veranstaltung bot ihm die einmalige Chance, zu besichtigen, was in den verflossenen zehn Jahren an der Küste der Liaodong Bucht geschehen ist – und darüber zu berichten.
Es lohnt sich aus folgenden Gründen: Panjin Harbour New Town repräsentiert als am Reißbrett entworfene Planstadt mittlerer Größe die städtebaulichen Visionen Chinas auf eine idealtypische Weise. Hinzu kommt, dass die Planungen für diese Hafenstadt nicht nur weitestgehend außerhalb der Wahrnehmungsschwelle der fachkompetenten westlichen Öffentlichkeit liegt, sondern eine westliche Beteiligung, wie sie häufig bei anderen chinesischen Neustadtprojekten festzustellen ist, hier nicht nachgewiesen werden kann – sieht man einmal von meinen marginalen, zudem an chinesischen Leitbildern orientierten Anregungen ab. In Panjin Harbour New Town ist China gewissermaßen ganz bei sich und gerade dieser Umstand verdient unser auf die sozialen und kulturellen Dimensionen des chinesischen Städtebaus gerichtetes Erkenntnisinteresse. An diesem Ort können wir auf exemplarische Weise beobachten, was Städtebau im heutigen China aktuell ausmacht.
Der “Architektenkönig” des Dongbei
Die Einbettung der rasterförmigen Grundstruktur in die vorgegebene Topografie und das vorhandene Erschließungssystem, die Lage des Hafens, der Verlauf und die Bestückung der etwa 12 Kilometer langen Zentralachse, die räumliche Verteilung der Flächennutzungen, die Lage von Naturschutzgebieten, Naherholungs- und Grünräumen, der Verlauf der zahlreichen Kanäle, die die Stadt am Wasser durchziehen und vor allem die Entwürfe der öffentlichen Gebäude tragen die Handschrift des Tianzuo Studios und dort insbesondere des Chefs. Lingling Zhang ist in Nordchina eine bekannte und geachtete Architektenpersönlichkeit. Hinter vorgehaltener Hand wird er mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Augenzwinkern schon einmal “der Architektenkönig des Dongbei” genannt. Diesem Titel wird er mit seinem Architektenteam in Panjin Harbour New Town vollauf gerecht. Selbst im boomenden China kann man wohl kein zweites Mal ein Stadtentwicklungsprojekt besichtigen, wo ein einzelner Architekt so viele Entwürfe auf einmal verwirklichen konnte – und durfte.
Neben dem Rahmenplan, dem Masterplan, dem Flächennutzungsplan und vielen Detailplänen zählen dazu die Freiraumgestaltung und die Landschaftsarchitektur, die Integration der Kanäle und Wasserflächen in den zukünftigen Stadtraum und die Uferverläufe. Mit Blick auf die Gebäude gehören dazu die zackige Skulptur, die den Stadteingang markiert, die unweit des “Stadttores” angesiedelte Verwaltungsakademie und der riesige Universitätscampus, ein auf Disziplinen rund um die landwirtschaftliche Erzeugung fokussierter Zweig der Technischen Universität von Dalian.
Zu nennen sind die drei öffentlichen Sportarenen, die Klinik, das Cuicia See Luxushotel und zahlreiche Brückenbauwerke. Schließlich sind noch jene öffentlichen Gebäude zu nennen, die die Zentralachse der Planstadt flankieren und auf diese Weise Struktur verleihen. Zu diesen zählen unter anderem das Gebäude der Stadtregierung, das Theatergebäude, das Museum für Innovation, das Museum für Wissenschaft und Technik, das Maritime Museum, die öffentliche Bücherei und das Aktivitätszentrum für Kinder. Direkt auf der Achse liegend und diese damit zusätzlich betonend, finden wir die Ausstellungshalle der Stadt, im Folgenden “Stadtgalerie” genannt, und das lokale Gründerzentrum.
Insgesamt umfasst der Beitrag des Tianzuo Studios über 80 Projekte, von denen Anfang 2018 etwa 40 vollendet waren. So ist es nahezu unvermeidbar, dass die Begutachtung des Neustadtprojektes zu einer Evaluation der Architektur von Lingling Zhang und seiner Architektencrew gerät. Panjin Harbour New Town ist beim jetzigen Realsierungsstand mehr oder weniger eine Open-Air-Ausstellung des Tianzuo Studios – dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund eines noch in allerersten Anfängen verharrenden Wohnungsbaus.
Die Gestaltungshegemonie des Studios bedarf einer kurzen Erklärung, bevor wir uns den indikativen, ikonischen und symbolischen Botschaften seiner Bauten zuwenden. China ist in sozialer Hinsicht eine von Familie und Gemeinschaft und entsprechenden personalen Hierarchien stark geprägte Gesellschaft. Dies entspricht dem niemals vollständig erloschenen, tief in der Gesellschaft verwurzelten Einfluss des konfuzianischen Gedankenguts. Kein Wunder also, dass das Dispositiv des Familiären sich auch innerhalb von öffentlichen Institutionen bemerkbar macht. Auch an Universitäten finden wir nicht selten clanähnlich strukturierte Gebilde, die als Hybride formaler Institutionen (Institut, Abteilung) und informeller Sozialstrukturen (clanähnliche Gemeinschaft mit einem ‘pater familias’ an der Spitze) gedeutet werden sollten. In den formalen öffentlichen Institutionen ringen diese informellen (“privaten”) Clans um Rang und Einfluss.
An der Jianzhu Universität Shenyang ist der Architekt Zhang formal akademischer Dekan und ‘informell’ ein unternehmerisch agierender Chef des Tianzuo Studios. Seine Stellung ist offenbar stark genug, um das Vertrauen der Präfektur Panjin in einem Umfang zu erringen, wie dies Architekten in China nur selten zuteil wird. Das Maß an architektonischer Selbstverwirklichung einer Architektenpersönlichkeit in Panjin Harbour New Town erinnert ein wenig an die von den Bauten Oscar Niemeyers geprägte brasilianische Hauptstadt Brasilia – mit dem Unterschied, dass in der Provinzstadt Panjin Lingling Zhang auch noch den Part des Stadtplaners Lúcio Costa mit übernommen hat.
Der Stadtgrundriss von Panjin Harbour New Town
Kommen wir zum Stadtgrundriss von Panjin Harbour New Town. Für diesen sind vier landschaftlich-topografische Bereiche prägend:
Zum einen eine starke Krümmung des Liao He im Osten, wo der Fluss seine Fließrichtung vollständig ändert, von west-ost nach ost-west. Dadurch entsteht ein schwanenhalsartiger, weit nach Osten auskragender Landfortsatz, der sich bestens als Naherholungsraum eignet – auch für die angrenzende Großstadt Yingkou. Die landschaftliche Hochwertigkeit des Areals weckt allerdings – und keineswegs überraschend – Begehrlichkeiten der Stadtoberen von Panjin, der die lukrative Vergabe von Landnutzungsrechten obliegt. Kein Wunder daher, dass große Teile der attraktiven Flussbiegung für noble Siedlungen und, bedauerlicherweise, für Einzelhandelsflächen ausgewiesen wurden.
Das Hauptmotiv für die Ansiedlung von Einzelhandelsflächen an dieser Stelle ist die Nähe zum Zentrum der Stadt Yingkou. Von dieser soll Kaufkraft in Richtung Panjin abgezogen werden. Dass derlei Überlegungen kurzsichtig sein könnten, dürfte sich an der zu erwartenden Kannibalisierung der für das Stadtzentrum von Panjin Harbour New Town vorgesehenen Einzelhandelsstandorte zeigen. Hinzu kommt die Programmierung von Nutzungskonflikten durch die Emissionen eines erhöhten Verkehrsaufkommens in Gebieten, die sich für Naherholung und hochwertiges Wohnen anbieten.
Zum zweiten die Kernzone der Stadt, räumlich zusammengehalten durch die markante Zentralachse, mittels derer eine hierarchische Raumfolge öffentlicher Einrichtungen organisiert wird. In diesem Bereich, der durch zwei vorgelagerte künstliche Inseln erweitert wird, konzentrieren sich die politisch-administrativen, kommerziellen, kulturellen, sozialen und bildungsbezogenen Funktionen der Neustadt. Allen diesen Gebäude, Quartieren und Flächen wird Platz und Rang durch die in Nord-Süd-Richtung verlaufende Zentralachse zugewiesen. Die Magie der Achse ist Teil der städtebaulichen Tradition Chinas. Sie gründet in kosmologischer Weltdeutung und erinnert insofern an die römische Anlage von Cardo und Decumanus. In jüngster Zeit wird die Achse, teils auch als urbaner Korridor (zum Beispiel der “Goldene Korridor” von Shenyang), wiederentdeckt, um ganz im Sinne der Zeichenlehre von Kevin Lynch Form und Lesbarkeit der riesigen, hoch verdichteten, vertikalen Städte zu verbessern.
Für Panjin Harbour New Town zitieren die Autoren des Masterplans explizit das große Vorbild des historischen Beijing mit seiner nord-südlich ausgerichteten Drachenachse. Zudem verankern sie Position und Form der Achse in einer umfassenden ReflexionReflexion: die Fähigkeit eines Materials oder einer Oberfläche, Licht oder Energie zu reflektieren oder zurückzustrahlen. der auf den Standort angewandten Regeln des Feng ShuiFeng Shui: Eine asiatische Lebensphilosophie, bei der die Gestaltung von Räumen entsprechend ihrer energetischen Aspekte betrachtet wird.: die Beziehung von Wasser und Erde, von lastendem Berg und fließendem Strom, das Verhältnis von nodalem und axialem Zentrum, die Strömung des Windes, die Energie-Zirkulation von Mensch und Mobilitätstechnik in der Stadt, die Zahlensymbolik (etwa der Zauber der kaiserlichen Zahl neun) und vieles mehr werden abgehandelt, um Lage, Ausdehnung und Form der Neustadt fest in chinesischen Traditionen der Produktion des Raums zu verankern.
Zum dritten der vollständig neu errichtete Ölhafen mit all seinen Kais, Piers und Kränen an einer Stelle, wo zuvor kein Hafen war. Auch hier wurde in konkurrenzieller Absicht auf die Nachbarstadt Yingkou mit ihrem umtriebigen Hafen geschaut. Um denen “das Wasser abzugraben”, wurde ein veritabler Tiefseehafen gebaut. Dazu mußte den seichten Gewässern in der Nähe der Flussmündung in großem Stil Land abgerungen werden. So schieben sich die Kais und Hafenbecken, geschützt von zwei den Hafen zangenartig umschließenden Molen, weit in das Meer hinaus. Dem Hafen landseitig vorgelagert befindet sich ein großflächiges Gewerbegebiet, das plausibel erscheinen lässt, weshalb Panjin Harbour New Town auf 600 Tausend Einwohner ausgelegt ist.
Schließlich, zum vierten, die einzigartige Strandsoden-Küstenlandschaft. Dieses zu Recht als großes Naturwunder gewürdigte Gebiet soll nicht nur dem Tourismus in der Region auf die Sprünge helfen, sondern zur Imagebildung der Neustadt an der Küste beitragen, ihr ein Alleinstellungsmerkmal verschaffen. Inzwischen ist das Strandsoden-Marschland für den Massentourismus schon so weit erschlossen, dass man sich schon einmal besorgt fragt, wieviel Eingriffe mit Zufahrtsstraßen, Busparkplätzen, Aussichtsplattformen, Beobachtungstürmen, endlosen Stegen, Brücken, geschützten Aufenthaltsflächen etc. diese Küste noch erträgt. Es ist davon auszugehen, dass der westliche Abschluss der Neustadt zukünftig durch Hotels, Themenparks und Vergnügungseinrichtungen aller Art geprägt sein wird.
Architektonische Beiträge des Studios Tianzuo
Kommen wir nun zu den architektonischen Beiträgen des Studios Tianzuo. Wir beginnen unsere Auswahl mit der erwähnten Stadttor-Skulptur, die der bekannten Siegerpose des Sprintstars Usain Bolt nachempfunden zu sein scheint. Die leicht verständliche ikonische Botschaft des Baus lautet: Panjin Harbour New Town reimt sich auf Wachstum und Erfolg, ist eine Stadt mit Gewinnerpotenzial. Mit der Farbgebung des innen begehbaren Gebäudes wird bereits der Brückenschlag zur spektakulär roten Färbung der Strandsode hergestellt. In der folgenden Betrachtung einzelner Bauten wird uns diese Farbe immer wieder begegnen. Zhang, so wurde mir mitgeteilt, habe großen Wert darauf gelegt, dass für Zwecke der Fassadengestaltung, jedoch auch für Innendekorationen, eigens ein neuer Rot-Ton kreiert wird, der mit demjenigen der herbstlichen Strandsode vollständig übereinstimmt.
Geht man davon aus, dass das wichtigste Gebäude der neuen Stadt seinen Platz ungefähr dort einnimmt, wo zu Kaisers Zeiten die verbotene Stadt (der Palast des Kaisers) oder der Sitz der Mandarine beziehungsweise Gouverneure zu finden war, dann erhält diesen Platz nun die Stadtgalerie. In diesem Gebäude werden Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Stadt in Text, Bild, Video, Modell, Fundstück und Medien aller nur denkbaren Art umfassend ausgestellt. Was den Standort dieses Ausstellungsgebäudes betrifft, ist Panjin Neustadt alles andere als eine Ausnahme. Auch die Megametropole Shanghai wählte für ihre ‘Exhibition Hall’ die überaus prominente Nachbarschaft zum Platz des Volkes. In westlicher Wahrnehmung ist die Ortswahl für die Stadtgalerie allerdings verblüffend.
Die Position des Gebäudes wird jedoch etwas verständlicher, wenn man weiß, dass in seinen Gemäuern die Stadt nicht nur sich selbst medial inszeniert und feiert, sondern zugleich eine Brücke zu allen anderen chinesischen Städten schlägt. So wird die Stadtgalerie zu einem Ort nationaler Selbstvergewisserung, zu einem Symbol der Einheit des Reiches. Sie übernimmt damit eine Funktion, die im alten China die Stadtmauer als Symbol der Anwesenheit und Allmacht des Kaisers innehatte. Dass auf diese Weise der Stadtplanung und dem Städtebau geradezu ein Tempel errichtet wird, bezeugt und bestätigt zugleich den hohen gesellschaftlichen Rang dieser Disziplinen. Im Verhältnis von Politikern (Provinzgouverneuren, Bürgermeistern, Parteisekretären) einerseits und Stadtplanern und Architekten andererseits perpetuiert sich zumindest partiell die chinesische Tradition der literarischen, lernenden Gesellschaft.