27.10.2014

Wohnen

Fordernder Wohnungsbau

„Die orthodoxen unter den modernen Architekten neigten dazu, Vielfalt als etwas Unbefriedigendes bzw. in sich Widersprüchliches zu betrachten. In ihrem Versuch, mit allen Traditionen zu brechen und von Grund auf neu zu beginnen, idealisierten sie das Primitive und Elementare auf Kosten des Gestaltungsreichen und Intellektuellen. Sie verstanden sich als Teil einer revolutionären Bewegung und beriefen sich auf das absolut Neue der modernen funktionalen Notwendigkeiten; sie ignorierten dabei aber die darin eingeschlossenen Schwierigkeiten. Als Reformer, die sie sein wollten, vertraten sie kompromisslos das Moment der Trennung, der gegenseitigen Abgrenzung der einzelnen Elemente; sie vernachlässigten dabei aber das Moment der Integration verschiedener Erfordernisse, ihrer gleichberechtigten Berücksichtigung.“ schreibt Robert Venturi im Kapitel „Komplexität und Widerspruch versus Simplifizierung und Flucht in das Pittoreske“ seines Buches „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“.

Eine Katze (nicht zu verwechseln mit derjenigen, die sich in der letzten Kolumne hier in den Schwanz gebissen hat) begrüßt uns am Hauseingang des Mehrfamilienhauses in Binningen – einem Stadtteil von Basel. Wir sind mit den Zürcher Architekten Oliver Lütjens und Thomas Padmanabhan verabredet, die uns ihr gerade erst fertig gestelltes neues Werk zeigen möchten. (Ja, in Zürich und in Basel geben die jungen Architekten den Ton an im Wohnungsbau! Falls man außer dem Haustier den Bezug zur letzten Kolumne vermissen sollte.

Da wir zu früh dran sind, schleichen wir schon mal eine Runde um das zum Großteil noch nicht bezogene Bauwerk. Wir staunen – nicht nur über diese als Katze getarnten Briefkästen, die gleichzeitig ein unverblümtes Formenzitat des Wohngebäudes von John Hejduk für die IBA in Berlin aus den 80er Jahren sind – ebenso im Übrigen wie auch das Vordach. Wir staunen über die Einfachheit, die Komplexität und die Widersprüchlichkeit des Ganzen. Und dann noch diese spitze Ecke, eine Anlehung an Venturis Gebäude für die North Penn Visiting Nurse Association, die das Haus zur Hauptstraße überbreit erscheinen lässt und sich dann beim Gang um diese Ecke als fast beschwingte und lockere raumbildende Geste erweist, die noch dazu den Neubau in die bestehenden Straßenfluchten einbettet.

Und wir hören förmlich wie ein Großteil unserer jungen Architektenkollegen und die alten sowieso rufen möchten: Was ist das denn, was soll das hier? Darf man das? So war das nicht gemeint, wenn wir behaupteten, dass unsere Generation keine Dogmen mehr kennen würde.

Und wir möchten Ihnen zurufen: Doch genau so war das gemeint! Eine Architektur die gleichermaßen mit dem Gewohnten spielt wie sie es auch im nächsten Moment sofort wieder in Frage stellt, die reich ist an Bezügen und Zitaten, die Brüche zulässt und Irritationen sucht und sich nicht in Romantizismen verliert. Die sich dem ökonomischen Diktat nicht entzieht und den Bauherren doch gleichzeitig inhaltlich fordert wie eine ordentliche Theorievorlesung einen Erstsemesterstudenten!

Aber ob einem das Haus nun von außen wirklich gefällt oder nicht, ob man die in den Arbeitsmodellen geweckten Hoffnungen in der Realsierung wirklich erfüllt sieht oder nicht, einerlei, denn als wir es dann mit den beiden Architekten betreten und einen Blick in die Wohnungen werfen, da ist das einfach ein „megastarkes“ (wie die Schweizer sagen würden) Wohngebäude – das unglaublich nah am Nutzer gedacht erscheint – großzügig, vielschichtig, gelassen, wohlproportioniert.

Das nennen wir Architektur mit den Mitteln des Architekten – und nichts anderes! Und das ist es was man gerne auch hier wieder all den hippen und eitlen Weltverbesserern und den „Poverty-Hoppern“ zurufen möchte: Die Verantwortung der Architekten liegt in der Qualität und in der Diskursfähigkeit ihrer Arbeit. Egal wo. In Afrika genauso wie in Basel. Punkt.

Aber dass das jetzt am Ende fast wieder den Anschein hat, als würde hier zum wiederholten Male in das von Wolfi D. Prix’ Lippen noch leicht feuchte Horn geblasen werden, klären wir ein anderes Mal – so einfach kommt er uns nämlich nicht davon das latente Feindbild unserer Generation! Fortsetzung folgt …

Zitat aus: Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Braunschweig/Wiesbaden 1978, S.25

Mehr zum Wohnhaus in Binningen im aktuellen Baumeister 10/2014.

Fotos: Walter Mair

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