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Sechs Monate Wien, sechs außergewöhnliche Wohngebäude – das hat sich Academy Gewinnerin Franzisca Rainalter vorgenommen. Den Start ihrer Reihe machte das Wohnprojekt Wien von dem Architekturbüro einszueins. Diesen Monat besuchte sie einen Klassiker des sozialen Wohnungsbaus: den Karl-Marx Hof. 

Mein Ausflug geht dieses Mal in das „Grätzl“ des 19. Bezirks – Döbling. Direkt bei der Endhaltestelle der U4 angekommen, steht man auch schon vor dem monumentalen Mitteltrakt des Karl-Marx-Hof. Der „Superblock“ zieht sich über einen Kilometer lang. Ich stehe genau in dessen Zentrum – auf dem heutigen „12. Februar Platz“ – der sich durch den zurückgesetzten Mitteltrakt und die sechs Türme bildet. Der große Platz ist belebt: Bei einer Baumgruppe spielen einige Kinder, ältere Menschen spazieren mit ihren Hunden und eine Gruppe offensichtlicher Touristen kommen mir mit Kameras entgegen. Es zieht sie hier her, da der Karl-Marx-Hof als Ikone des „Roten Wien“ gilt. Das Wohngebäude wurde in den Jahren 1926 bis 1933 nach Plänen von Karl Ehn als Musterbeispiel eines monumentalen „Superblocks“ errichtet. Als Gegenentwurf zur Gartenstadt ist der Superblock eine „Stadt in der Stadt“ mit eigener Infrastruktur.

Die Erschließung der einzelnen Häuser befindet sich im Inneren des Superblocks.
Die Straßen und Zwischenhöfe sind belebt.

Das „Rote Wien“

Das Rote Wien entstand nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie. Nach den ersten freien Gemeinderatswahlen 1919 bekam Wien als erste Millionenstadt der Welt eine sozialdemokratisch regierte Verwaltung. Daraus entstand ein gesellschaftspolitisches Experiment, das alle Lebensbereiche der Bewohner erfasst und reformiert. Von der Sozial- und Gesundheitspolitik über das Bildungswesen bis hin zum Wohnungsbau. Finanzielle Grundlage für die Vorhaben des neuen Wohnens schafft der damalige Finanzstadtrat Hugo Breitner mit einem neuen Steuersystem und diversen Luxusabgaben. Insgesamt werden so mit Hilfe der „Breitner-Steuern“ zwischen 1923 und 1934 über 380 Gemeindebauten mit mehr als 64.000 Wohnungen errichtet.

„Man muss Gemeindebauten als Antwort auf das verstehen, was es zuvor gab. Als Versuch, all das zu entfernen, was schlecht war.“ Eve Blau
Rotes Wien: Architektur 1919-1934 – Stadt-Raum-Politik, Lehrende an der Harvard University. Forschungsschwerpunkt: Geschichte und Theorie der Architekturmoderne und des Städtebaus.

Die Gebäude aus Zeiten des roten Wiens stehen in der ganzen Stadt verteilt. An vielen von ihnen geht man achtlos vorbei, trotz ihrer roten Aufschriften. Manche stehen unscheinbar in kleinen Baulücken zwischen Gründerzeithäusern, andere ragen in die Höhe und bilden den Mittelpunkt eines „Gräzls“. Der Wiener Gemeindebau war von Anfang an Teil der Stadt: Nicht vor oder neben der Stadt ausgelagert, sondern integriert und mittendrin.

Das „neue Wien“

Die meisten Gemeindebauten in Wien haben äußerlich nicht viel modernes an sich. Sie fallen heraus aus den zeitgleich entstandenen deutschen und internationalen Bauten, die weiß und mit Flachdächern entstanden sind.  Stattdessen wurde der Gemeindebau rational gesehen, in großem Maßstab, mit hochtechnischer und moderner Infrastruktur. Neue Materialien und industrielle Vorfertigung fanden im Wiener Gemeindebau keinen Platz. Vielmehr wurde auf das alt hergebrachte gesetzt – nämlich den Ziegel. Dies lag weniger architektonischen Prinzipien zu Grunde, mehr aber der sozialistischen Politik, die mit dieser Bauweise Arbeitsplatze schaffen und sichern konnte.

Karl-Marx-Hof

Das Gelände des Karl-Marx-Hof …
bezieht sich auf 156.027 Quadratmeter.

Der Karl-Marx-Hof sollte bezahlbaren Wohnraum schaffen. Wohnraum mit fliesend Wasser, eigenen Toiletten und sozialen Einrichtungen in greifbarer Nähe, sollten zu einem besserem Leben beitragen.
So entstanden 1.382 Wohnungen für 5.000 Menschen und zahlreiche Einrichtungen wie zum Beispiel zwei Wäschereien mit Waschständen, zwei Bäder mit Wannen und Brausen, zwei Kindergärten, eine Mutterberatungsstelle, eine Bibliothek, eine Krankenkasse mit Ambulanz und 25 weitere Geschäfte. Das Gelände des Karl-Marx-Hof bezieht sich auf 156.027 Quadratmeter. Verbaut wurde davon nicht einmal ein fünftel. Unter dem Motto „Licht, Luft, Sonne“ blieben so circa 80 Prozent der Fläche Grün und für den geteilten Freibereich erhalten. Die Mieten in dem Karl-Marx-Hof beliefen sich damals auf circa zehn Prozent des Gehalts eines Arbeitslohns.

Die Erschließung der einzelnen Häuser befindet sich im Inneren des Superblocks. Daher müssen die Bewohner einen der vielen Innenhöfe durchqueren, um in ihre Wohnungen zu gelangen. Als ich in einem der Innenhöfe ankomme, merke ich, wie es ruhiger wird. Der Lärm der Stadt ist ausgesperrt; Geräusche eine Wohngegend werden hörbar: Von der naheliegenden Wiese und den Balkonen hört man Kinder lachen und schreien, aus der ein oder anderen Wohnung hört man Radiomusik. Es ist Wochenende, mir kommen viele Familien entgegen, mit Kinderwägen und Hunden. Auf den Bänken sitzen einige ältere Menschen, die die letzten Sonnenstrahlen in diesem Herbst genießen.
Die von den Bewohnern und Bewohnerinnen individuell gestalteten Balkone in dem Innenhof, machen den Superblock als bewohntes Objekt greifbarer und lassen erahnen, dass Leben in dem monumentalen Bau stattfindet. Nach wie vor leben hier seit fast hundert Jahren Menschen nebeneinander in dem „Grätzl“ des 19. Bezirks in Wien.

Alle Bilder: Franzisca Rainalter

Die Baumeister Academy ist ein Praktikumsprojekt des Architekturmagazins Baumeister und wird unterstützt von GRAPHISOFT und der BAU 2019.

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