08.09.2023

Portrait

Brutalismus – Die kleine Baumeister Stilgeschichte

Beton
Gottfried Böhm, Pilgerkirche in Neviges. 1963-1972 01. Foto: seier+seier via Wiki Commons, CC BY 2.0
Gottfried Böhm, Pilgerkirche in Neviges. 1963-1972 01. Foto: seier+seier via Wiki Commons, CC BY 2.0

Brutalismus klingt landläufig nicht sehr freundlich, ist aber in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts ein feststehender und bekannter Begriff. Er kam in den 1950er- und 1960er-Jahren für Bauten aus Sichtbeton auf, die glatt oder mit Mustern verschalt sein konnten. Später ordnete man Architekturen, bei denen die Sichtbarkeit des Baustoffs zum stilistischen Merkmal wurde, dem Brutalismus zu.

Dabei legte man das, was bis dahin unsichtbar bleiben sollte, auf die Fassadenoberflächen, um die kompakte Wirkung eines Gebäudes aufzureißen: Rohre, manifeste Leitungen, unverkleidete Mauern, viel ungeschminkter Beton und das räumliche Spiel der Bauteile traten so in den Stadtraum – alles im allen kein sehr zimperlicher Baustil, wie der Name Brutalismus schon nahelegt. Welche Architekten maßgeblich für die Stilrichtung und mit Ihrem Bauten Ikonen schufen, verraten wir hier.


Begrifflichkeiten

Der schwedische Architekt Hans Asplund prägte als erster den Begriff Brutalismus. Später übernahmen ihn englische Architekten und verbreiteten den Begriff Brutalism, den sie von „Béton brut“ (Sichtbeton) herleiteten. In Großbritannien nahm das Architektenpaar Alison und Peter Smithson dabei eine Vorreiterrolle ein. Schon im Jahr 1953 bezeichneten sie ihre Architekturen als Beispiele des Brutalismus. Der Autor und Theoretiker Reyner Banham definierte den Architekturstil 1955 in seinem Essay „The New Brutalism“ in der Zeitschrift Architectural Review und brachte damit eine lebendige internationale Debatte ins Rollen.

Der Brutalismus war mit der ökonomischen und materiellen, insbesondere aber auch mit der mentalen und psychologischen Situation der Nachkriegszeit verbunden. Dadurch wurde er einerseits zu einem internationalen Phänomen, das andererseits auf die jeweilig lokalen Bedingungen reagierte. Neben Beton als Werkstoff wurden auch Metall, Ziegel oder Stein als Baumaterial herangezogen.

Foto: Unsplash, Ben Allen
Foto: Ben Allen via Unsplash

Verbreitung und Rezeption

Der Brutalismus verbreitete sich in den 1960er-Jahren auf allen Kontinenten und blieb bis in die 1980er-Jahre en vogue. Ihre Vertreter meinten, dass die modernen industrialisierten Staaten eine kraftvolle, raue und ehrliche Baukunst brauchen. In den 1990er-Jahren verließ die Architekturszene diesen Pfad, Brutalismus galt nun sogar als ästhetischer Vandalismus. Urbanisten und Architekten arbeiteten jetzt wieder an der Renaissance der bürgerlichen Stadt. Die Architekturen des Brutalismus wurden kaum gepflegt und Beton ist sehr anfällig für Schmutz, Algenbewuchs oder Zerfall. Der Zahn der Zeit ließ sich an den Brutalismus-Ikonen immer gut ablesen und machte sie im Stadtbild oft unattraktiv.

Obwohl die Architekturkritik im frühen 21. Jahrhundert den Brutalismus als ästhetisches Konzept wieder entdeckte und zu schätzen wusste, sind bis zum heutigen Tag viele seiner Bauten vom Abriss bedroht. Beton und seine Verbauung gilt aktuell als Bau- und Umweltsünde – von „grauer Energie“ ist in diesem Zusammenhang die Rede. Dennoch machen sich Experten für den Brutalismus stark. So zeigte das New Yorker MoMA 2018 die Ausstellung zur „Toward a Concrete Utopia: Architecture in Yugoslavia, 1948-1980“ und machte damit die bis dato umstrittene Baukunst sogar museumswürdig. (Mehr zur MoMA-Ausstellung im Video.)


Konkretes in „Concrete“

Beispiele für den Brutalismus in der Architektur finden wir überall. Zu den ersten bedeutenden Bauwerken dieses Stils gehört Le Corbusiers „Unité d´Habitation“ in Marseille. Der Wohnblock wurde zwischen 1946 bis 1952 als Wohnprojekt mit Raumtypen zur individuellen oder gemeinschaftlichen Lebensgestaltung realisiert.

In der Längsachse 138 Meter messend und über 18 Geschosse errichtet bietet Le Corbusiers Erstlingswerk auf diesem Gebiet 330 Wohneinheiten und viele Social Islands auf den Dachterrassen. Die seriell angelegte Raumstruktur ermöglichte eine effiziente Planung und bauliche Umsetzung und war so etwas wie der Vorläufer des Plattenbaus in einem Stahlbetonskelett.

Le Corbusier, Unité d'Habitation de Firminy, 1946-1952. Foto: Yana Marudova via Unsplash.
Foto: Yana Marudova via Unsplash
Le Corbusier, Unité d'Habitation de Firminy, 1946-1952.
Le Corbusier, Unité d'Habitation de Firminy, 1946-1952. Foto: Louis Charron via Unsplash.
Foto: Louis Charron via Unsplash
Le Corbusier, Unité d´Habitation de Firminy, 1946-1952. Foto: Andy Wright via Wiki Commons CC BY 2.0
Foto: Andy Wright via Wiki Commons CC BY 2.0

Brutalismus vertikal: Torre Velasca

Hochhaustürme treten sehr markant im Stadtbild auf. Ein gelungenes Beispiel gut gestalteter Betonarchitektur in der Vertikalen ist der seit 2011 unter Denkmalschutz stehende „Torre Velasca“ in Mailand von dem Architektenkollektiv BBPR. Die Planungen dafür gingen auf Ideen zu Beginn der 1950er-Jahre zurück. In den Jahren 1956 und 1957 konnte der 106 Meter hohe Turm in nur 292 Tagen hochgezogen werden.

Seine Architektur nimmt das vorweg, was heute unter „Mischnutzung“ oder „Hybridarchitektur“ firmiert: In den unteren 18 Geschossen sind Geschäftsräume und Büros untergebracht, in den oberen Stockwerken des pilzkopfartig aufgesetzten, auskragenden Querkörpers befinden sich Wohnungen mit einem tollen Ausblick über Mailand.

BBPR Architekten, Torre Velasca, Mailand, 1956-1957. Foto: Daniel Case via Wiki Commons, CC BY-SA 3.0
Foto: Daniel Case via Wiki Commons, CC BY-SA 3.0
BBPR Architekten, Torre Velasca, Mailand, 1956-1957.

Brutalismus vertikal: Torres Blancas

Auch der 81 Meter hohe „Torres Blancas“ in Madrid, 1961 von Francisco Javier Sáenz de Oiza entworfen, wird in dieser Art genutzt. Bei diesem Turm, der im Auftrag des wagemutigen Bauherrn Juan Huarte als avantgardistisches Experiment entstand, handelt es sich um eine der kompliziertesten und innovativsten Stahlbetonkonstruktionen der 1960er-Jahre. Der Architekt selbst wohnte übrigens bis zu seinem Tod in diesem Turm.

Francisco Javier Sáenz de Oiza, Torres Blancas, 1961. Foto: Xauxa Håkan Svensson via Wiki Commons, CC BY-SA 3.0
Foto: Xauxa Håkan Svensson via Wiki Commons, CC BY-SA 3.0
Francisco Javier Sáenz de Oiza, Torres Blancas, 1961.

Die Smithsons und der Sozialbau

In Großbritannien gehört das in London aktive Architektenpaar Alison und Peter Smithson zu den Wegbereitern des Brutalismus. Ihr „Economist Building“, an dem die beiden ab 1960 arbeiteten, war das Redaktionsgebäude der britischen Wirtschaftszeitung The Economist. Es gilt mit seiner kompakten Formgebung und seiner Fassade aus Sichtbeton als wegweisend für brutalistische Gestaltungsprinzipien. Neben Verwaltungsbauten engagierten sich die Smithsons auch auf dem Gebiet des sozialen Wohnungsbaus.

„Robin Hood Gardens“ heißt ihre Londoner Wohnsiedlung, die zeitgleich entstand und 1972 vollendet wurde. Lange Betonblöcke, breite Luftwege und Grünflächen prägen die aus zwei Gebäuden mit sieben bzw. zehn Geschossen bestehende Anlage. Der Westblock wurde wegen seines schlechten Zustands 2017 abgerissen. Einen Teil davon konservierte das Victoria & Albert Museum und präsentierte ihn mit einer Dokumentation 2018 auf der Architekturbiennale in Venedig, um die Visionen der Smithsons für ein besseres urbanes Leben der Weltöffentlichkeit zu zeigen.

Alison und Peter Smithson, The Economist Building, London, 1962-1965 (Planung 1960). Foto: seier+seier via Wiki Commons, CC BY 2
Foto: seier+seier via Wiki Commons, CC BY-SA 2.0
Alison und Peter Smithson, The Economist Building, London, 1962-1965 (Planung 1960).
Alison and Peter Smithson, soziales Wohnbauprojekt Robin Hood Gardens, London. Fertigstellung 1972. Foto: stevecadman via Wiki Commons, CC BY-SA 2.0
Foto: stevecadman via Wiki Commons, CC BY-SA 2.0
Alison and Peter Smithson, soziales Wohnbauprojekt Robin Hood Gardens, London. Fertigstellung 1972.

Kulturbauten: Geisel-Library

Auch Kulturbauten erhielten ihr Gerüst und ihre Hülle mit viel Anteil Beton. Zu den bekannten brutalistischen Beispielen zählt das Hauptbibliotheksgebäude der University of California in San Diego, die sogenannte „Geisel Library“. Sie wurde von William Pereira entworfen. Ihr skulpturales Design ist eine Symbiose aus Brutalismus und Futurismus: Die Bögen des Gebäudes sollten in Kombination mit der Gestaltung der einzelnen Stockwerke wie Hände wirken, die einen Stapel Bücher hochhalten.

William Leonard Pereira, Geisel-Library, Fertigstellung 1970. Foto: Ben Lunsford via Wiki Commons CC BY-SA 3.0
Foto: Ben Lunsford via Wiki Commons CC BY-SA 3.0
William Leonard Pereira, Geisel-Library, Fertigstellung 1970.

Kulturbauten: London's National Royal Theater

In London ist das zwischen 1967 und 1976 nach Plänen von Denys Lasdun gebaute National Royal Theater ein interessantes Beispiel für einen Kulturbau im Stil des Brutalismus. Hier wurde sehr viel Sichtbeton verwendet, was die Architektur zum Gegenstand zahlreicher öffentlicher Diskussionen führte. Prinz Charles meinte, der Bau erinnere ihn an ein Atomkraftwerk. Von der Londoner Bevölkerung wurde das National Royal Theatre sowohl unter die zehn beliebtesten als auch unter die zehn meistgehassten Gebäude in der Stadt gewählt.

Denys Lasdun, Royal National Theatre, London, 1967-1976. Foto: Stevekeiretsu via Wiki Commons, CC BY-SA 4.0
Foto: Stevekeiretsu via Wiki Commons, CC BY-SA 4.0
Denys Lasdun, Royal National Theatre, London, 1967-1976.

Sakralbauten: Wallfahrtsdom in NRW

Auch Kirchenbau und Sichtbeton gehen gut zusammen: Gottfried Böhm und Fritz Wotruba haben das unter Beweis gestellt. Böhm, bekannt für seine ausdrucksstarken Betonarchitekturen in expressiver Kubatur, hat mit dem Nevigeser Wallfahrtsdom in Nordrhein-Westfalen von 1966 bis 1968 eine der größten Wallfahrtskirchen im Erzbistum Köln geschaffen. Er entwarf eine aufgehängte Betonkonstruktion, bei der die sich gegenseitig stützenden Wand- und Deckenelemente eine Einheit bilden. Nach außen zeigt sich der Sakralbau als kubistisches Konstrukt mit geschlossener Oberfläche in Sichtbeton.

Gottfried Böhm, Pilgerkirche in Neviges. 1963-1972 01. Foto: seier+seier via Wiki Commons, CC BY 2.0
Foto: seier+seier via Wiki Commons, CC BY 2.0
Gottfried Böhm, Pilgerkirche in Neviges. 1963-1972 01.

Sakralbauten: „Zur Heiligsten Dreifaltigkeit“

Der Wiener Bildhauer und Bühnenbildner Fritz Wotruba entwarf einen Kirchenbau aus Betonblöcken, der Architekt Fritz Gerhard Mayr führte die Baupläne dafür aus. Von August 1974 bis Oktober 1976 wurde die römisch-katholische Kirche „Zur Heiligsten Dreifaltigkeit“ im südlichen Wien gebaut. Sie besteht aus 152 unverkleideten Beton-Blöcken, der höchste von ihnen misst 13,10 Meter. Das Licht fällt durch einfache Glasscheiben, die in die unregelmäßigen Zwischenräume eingesetzt sind, woraus sich überschneidende Lichtbündel ergeben.

Fritz Wotruba (Entwurf), Fritz Gerhard Mayr (Architektur), Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit, 1974-1976, Wien. Foto: C.Stadler/Bwag, Wien via Wiki Commons, CC BY-SA 4.0
Foto: C.Stadler/Bwag, Wien via Wiki Commons, CC BY-SA 4.0
Fritz Wotruba (Entwurf), Fritz Gerhard Mayr (Architektur), Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit, 1974-1976, Wien.

Forschungsbauten: Der Mäusebunker in Berlin

Forschungsbauten und experimentelle Architektur haben viel gemeinsames Potential. In Berlin Lichterfelde steht zum Beispiel der sogenannte „Mäusebunker“, ein ehemaliges Tierlabor der Charité. Entworfen haben ihn die Architekten Gerd Hänska und Kurt Schmersow zu Beginn der 1970er-Jahre. 1981 war der Bau vollendet. Der Gebäudekorpus besteht aus einem in die Länge gezogenen und verkippten Pyramidenstumpf, dessen Oberfläche vollkommen aus Sichtbeton besteht. Blau lackierte Belüftungsrohre dringen von innen durch die Fassadenoberfläche – sie sehen fast aus wie Geschützrohre.

Die Fassadenöffnungen an den Längsseiten sind als dreieckige Fensterelemente ausgeführt, deren Tetraeder ebenfalls aus der Fassadenebene herausstehen. Der „Mäusebunker“ sollte eigentlich abgerissen werden, ist aber im vergangenen Winter durch Unterstützung der Berliner Kulturszene zu einem Modellverfahren des Landesdenkmalamtes erklärt worden und bleibt erhalten.

Gerd Hänska und Kurt Schmersow, Mäusebunker (Forschungseinrichtung der Charité), Berlin, 1971-1981. Foto: Rodib6950 via Wiki Commons, CC BY-SA 4.0
Foto: Rodib6950 via Wiki Commons, CC BY-SA 4.0
Gerd Hänska und Kurt Schmersow, Mäusebunker (Forschungseinrichtung der Charité), Berlin, 1971-1981.
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