03.10.2022

Portrait

Kubismus – Die kleine Baumeister Stilgeschichte

Kubismus in der Prager Altstadt: Das Haus zur Schwarzen Muttergottes von Josef Gočár. Foto: VitVit, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Kubismus in der Prager Altstadt: Das Haus zur Schwarzen Muttergottes von Josef Gočár. Foto: VitVit, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Denken wir heute an Kubismus, so fallen uns die Namen berühmter Maler wie Pablo Picasso und Georges Braque ein oder hochgeschätzte Bildhauer wie Alexander Archipenko und Henri Laurens. Doch der Kubismus hatte auch zentralen Einfluss auf die Architektur.

Kubismus in der Kunst

Als Kunstrichtung zwischen 1908 und 1910 entstanden, sah der Kubismus zuerst die Zertrümmerung aller optisch anschaulichen Formen vor. Die Maler und Bildhauer des Kubismus lebten und arbeiteten hauptsächlich in Frankreich. In anderen Ländern trat dieser Stil aber eher als eine Nebenerscheinung auf. Zu einem wichtigen Zentrum kubistischer Gestaltung kam jedoch das von den großen avantgardistischen Kunstzentren abseits gelegene Prag und sein böhmisches Umland empor. Hier entwickelten Maler und Bildhauer gemeinsam mit Architekten und Kunsthandwerkern den Kubismus zu einer Lebensform. Es entstanden Architekturen, Räume und Interieure mitsamt Alltagsgegenständen aller Art. Sogar Kleidung wurde kubistisch umgedacht. Es wurde also das fortgeführt, was die großen Reformbewegungen um 1900 vorgemacht hatten. Der Stil war allerdings ganz neu.

Die Villa Kovařovic wurde im Kubismus von dem Architekten Josef Chocol geplant und umgesetzt. Foto: Wikimedia
Die Villa Kovařovic wurde von dem Architekten Josef Chocol geplant und umgesetzt. Foto: Autor unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

Prager Kubismus

Der Kubismus in Böhmen mit Prag als seinem Zentrum ist seitdem eine der außergewöhnlichsten Erscheinungen in der Architektur- und Kunstgeschichte. Entstanden ist er in einer kleinen Enklave auf nahezu mittellosem Boden. In seiner kurzen Blütezeit ergriff er dann fast alle ambitionierten tschechischen Gestalter: Architekten und Bildhauer, Maler und Kunstgewerbler schlossen sich mit großer Überzeugung dieser kurzlebigen Kunstbewegung an. Die ersten Architekturen des Prager Kubismus entstanden um 1910, zwei Jahre später stand dieser Stil in seiner Blüte, mit Beginn des Ersten Weltkrieg im Jahr 1914 zeigten sich schon Anzeichen seines Niedergangs.

Nachwehen dieser kleinen kulturellen Hochblüte, mit der Prag schließlich an die internationalen Maßstäbe in der Architektur und Kunst anknüpfen konnte, reichten noch bis in die späten 1920er Jahre hinein. Aber: In den goldenen Zwanziger Jahren hatte der Prager Kubismus schon seine Reinheit, Ursprünglichkeit und revolutionäre Kraft verloren. Er war in leicht modifizierter Art mittlerweile zu einem National- und Staatsstil der gerade entstandenen Tschechischen Republik und damit fast gewöhnlich geworden.

Ein wichtiges Werk für den Kubismus: der Adria Palast in Prag. Foto: VitVit, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Ein wichtiges Werk für den Kubismus: der Adria Palast in Prag. Foto: VitVit, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Die wichtigsten Vertreter des Prager Kubismus

Die wichtigsten Prager Architekten, die den historischen Kubismus im Stadtbild verankerten, waren Josef Gočár, Josef Chochol, Vlatislav Hofman, Pavel Janák, Jirí Kroha und Otakar Novotný. Das wohl bekannteste architektonische Werk der Epoche ist dabei das „Haus zur Schwarzen Muttergottes“ von Josef Gočár. Benannt ist es nach der kleinen Figur einer Schwarzen Madonna, die schon das Hauszeichen des barocken Vorgängerbaus war. Die Statuette befindet sich an der rechten Ecke des an der Kreuzung zwischen der Zeltnergasse und dem Obstmarkt stehenden Gebäudes. In den Jahren 1910 und 1911 als Kaufhaus erbaut, ist das „Haus zur Schwarzen Muttergottes“ ein markantes Beispiel dafür, wie durch die Dominanz der Fläche ein kubistischer Baukörper entstehen kann. Sowohl klare Formulierungen von Kanten als auch die stark vereinfachten, aus geometrischen Formen komponierten Dekore zeichnen sich verantwortlich. Heute zählt Gočárs Kaufhaus deshalb zu den Nationalen Kulturdenkmalen Tschechiens.

Noch konsequenter setzte Josef Chochol die Grundgedanken des Kubismus um. Neben seiner lokalen Prägung hatte er in Wien bei Otto Wagner studiert. Chochols Meisterwerk ist die Villa Kovařovic in der Libušina 49 direkt an der Moldau, die nach dem Namen des Auftraggebers und Bauunternehmers Bedřich Kovařovic benannt ist. Erbaut wurde sie zwischen 1912 und 1913. Als Vertreter eines strengen Kubismus verzichtete Chochol komplett auf Ornamente. Stattdessen setzte er bei seiner Gestaltung durchgängig auf kristalline und diamantförmige Bauformen. Für die Villa Kovařovic entwarf Chochol auch die Inneneinrichtung, die nach dem Tod des Bauherrn im Jahr 1944 jedoch grundlegend verändert wurde.

Gründung der Künstlergenossenschaft Artěl

Der dritte Protagonist der kubistischen Architektur in Prag war Pavel Janák. Auch er war in Wien und hatte dort bei Otto Wagner sein Studium abgeschlossen. Dabei kam es zu ersten Berührungen mit den Architekturen von Josef Hoffmann und Adolf Loos. Nachdem Janák nach Prag zurückgekehrt war, beteiligte er sich an der Gründung der Künstlergenossenschaft Artěl. Gemeinsam mit Josef Gočár, Vlastislav Hofmann und Josef Chochol beschäftigte er sich damit, einen in stilistischer Hinsicht eigenen tschechischen Formenkanon des Kubismus für Kunsthandwerk zu entwickeln. 1912 war Pavel Janák neben Josef Gočár und Vlatislav Hofmann Mitbegründer der „Prager Kunstwerkstätte“. Hier wurden die Ideen für die Gestaltung von Möbelproduktionen und Gebrauchskunst aus Keramik, Glas und Metall auf den Weg gebracht.

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte Pavel Janák zusammen mit Josef Gocár aus dem Bemühen nach nationaler Identität heraus den auf dem Kubismus beruhenden „Nationalstil“. Ein wichtiges Werk dieser Stilrichtung ist der von 1922 bis 1924 gebaute „Adria Palast“ in Prag. Er zeigt wie der einst, vor allem durch Chochol so konsequent verfolgte Kubismus durch historische Würdeformeln wie Karyatiden und dekorierte Pilaster in einen repräsentativen Staatsstil überführt wurde.

Kubismus Rooftop in der Falkestrasse von Coop Himmelblau. Foto: Ollybennett2, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Rooftop in der Falkestrasse in Wien von Coop Himmelblau. Foto: Ollybennett2, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Exkurs: Die Nachwirkungen des Kubismus

Die Bauten des Prager Kubismus wurden aber nicht nur Touristenattraktionen. Sie hatten auch wichtige Nachwirkungen. Dazu meint der Gründer von Coop Himmelblau Wolf D. Prix: „Das Ziel der tschechischen Architekten war die Schaffung eines Gesamtkunstwerkes. Durch die Entwicklung neuer Formen, die der Statik und Funktion widersprachen, sollte der ganze Eindruck gestört werden. Funktionalität und Zweckmäßigkeit wurden abgelehnt. Es ist unbestreitbar, dass der tschechische Kubismus mit seinem Raumkonzept revolutionär war und in seiner Methode spätere Strömungen vorwegnahm“. Auch die Arbeit des von Prix mit seinen Partnern geführten Büros hat Wurzeln in dem für den Kubismus entscheidenden dekonstruktivistischen Ansatz. Traditionelle Bauformen aufgelöst, bot sich Coop Himmelblau dann Raum für experimentelle Freiheit: Grenzen des Möglichen innerhalb der Architektur konnten ausgereizt, neue, noch nicht ausgetretene Wege beschritten werden.

Prix sieht die Wurzeln dafür in der Welt der Philosophie verankert: „Kubismus und Dekonstruktivismus gemeinsam ist, dass beide eine unangepasste Entwurfsmethode haben. Der Dekonstruktivismus geht auf den von Freud beeinflussten Philosophen Jacques Derrida zurück. Es geht also um das Unbewusste im Entwurfsprozess. Es geht um die Erforschung des Zufalls als treibendes Element von Entwicklung und Evolution“. In den Jahren von 1983 bis 1988 realisierte Coop Himmelblau mit seinen berühmten Dachausbau in der Falkestrasse 6 im 1. Wiener Bezirk eine der ersten dekonstruktivistischen Architekturen der Welt.

Kubismus zeigt sich auch in Möbeln. Foto: Wikimedia Palickap, CC BY-SA 4.0
Kubistische Möbel. Foto: Palickap, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Raum plus Möbel

Bis heute tritt dem Betrachter mit ungewohnter Kraft und Ausdrucksstärke das historische kubistische Möbel entgegen. Er ist Teil einer neuen Raumwahrnehmung, die eine Bewegungsrelation zwischen Mensch, Objekt und Raum schafft. Entwickelt haben das kubistische Möbel ebenfalls die bereits genannten namhaften Prager Architekturbüros fußend auf Grundideen des Kubismus. Dynamik und Bewegung wurde aus der Materie heraus aufgebaut, der Gegenstand aufgelöst, wie in der Malerei dieser Epoche.

Die Kubisten abstrahierten und zerlegten Formen von Möbeltypen und alltäglichen Gebrauchsgegenständen, um sie dann wieder ganz anders zusammenzufügen. Mitunter kam es nicht nur zu einer Abstraktion der Form, sondern sogar zu ihrer semantischen Verschiebung. Die Objekte in astatischen, verschobenen Formen bekamen auch eine verschobene Bedeutung. Aschenbecher wurden zu einer Kleinarchitektur, der Glasschrank stand im Raum wie eine kristalline Skulptur, der Wäscheschrank sah aus wie ein zusammengebrochenes hölzernes Vieleck.

Kölner Werkbundausstellung zum Kubismus 1914. Foto: Wikimedia
Kölner Werkbundausstellung 1914. Fotos: Autor unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons
Kölner Werkbundausstellung Kölner Werkbundausstellung zum Kubismus 1914. Foto: Wikimedia

Zu Gast auf der Kölner Werkbund Ausstellung 1914

Die Ausstellung des Deutschen Werkbund 1914 war eine architektonische und kunstgewerbliche Meisterleistung auf rund 200.000 Quadratmetern. Sie war das letzte Großereignis modernen Gestaltungswillens im Deutschen Kaiserreich vor Ausbruch des Ersten Weltkrieg. Auch Tschechien nahm mit vier Räumen im Bereich des Österreichischen Pavillons an der Kölner Ausstellung teil. Die Ausgestaltung der vier tschechischen Räume übernahm Otakar Novotný. Das von kubistischen Destruktionen und einer expressiven Linearität beherrschte Ausstellungsinterieur Novontnýs ergänzten Möbel von Josef Gocár aus den Jahren 1912-1914 und Wandmalereien und Textilkunst von František Kysela.

Novotnýs Arbeit für den Tschechischen Werkbund hob der deutsche Kunstkritiker Peter Jessen in seinem Beitrag für das Jahrbuch des Deutschen Werkbund im Jahr 1915 besonders hervor: „Hier wird auf Flächen und Körpern die Schönheit mit Hilfe von scharfen Umrissen und gewagten Winkeln gesucht, man verzichtet auf alles Irrationale (…). Der tektonische Kubismus entspringt eher dem Verstand als dem Gefühl (…) Erst die Zukunft jedoch wird uns zeigen, ob sich das vollgültige Genie dieser neuen Bewegung weiterentwickeln wird (…)“. Aus mehr als einem Grund sollte dies nicht der Fall sein. Als Jessens Zeilen publiziert waren, war der revolutionäre Prager Kubismus bereits im Niedergang begriffen.

Kubismus und Pavel Janák (die legendäre Deckeldose in Form eines Kristalls aus dem Jahr 1911) - Foto: Wikimedia, VitVit, CC BY-SA 4.0
Pavel Janáks berühmte Keramikdose Foto: VitVit, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Alltagskubismus von Artěl

1911 standen die ersten kubistischen Häuser vollendet im historischen Stadtbild der Moldau-Metropole und demonstrierten die wagemutige Ästhetik der Avantgarde nach außen. 1908 war die Künstlergenossenschaft Artěl als Plattform für Kunsthandwerker gegründet worden. Mittlerweile füllte Artěl die Schaufenster ihres Schauraums mit keramischen Produkten in provozierenden kantigen und zackigen Formen – dies waren auch die Schöpfungen der Prager Kubisten. Anfangs konzentrierten sie sich mit ihren Entwürfen für Artěl auf kleine Objekte aus klassischen Materialien der angewandten Kunst wie Holz, Keramik, Glas und Metall, deren spärliche Dekore in Primärfarben gehalten waren. Blieben die Dekore betont reduziert, so explodierte dafür das Formenvokabular.

Die von Artěl vertriebenen Gegenstände waren bizarr, expressiv und skulptural aufgefasst. In ihrer Firmengeschichte, die bis in das Jahr 1935 reichte, bot Artĕl alle Produkte an, die im Alltag eine Rolle spielen konnten, vom Briefpapier über Tapeten und Mode bis hin zu Urnen. Zum Inbegriff kubistischer Keramik wurde die 1911 von Pavel Janák entworfene berühmte Keramikdose in Form eines Kristalls. Sie ist ein System von Winkeln, Kanten und Flächen in einer komplizierten, für das menschliche Auge kaum zu entziffernden Komposition. Aus einfachem weiß glasierten Steingut ausgeformt, betonen die wenigen ungeraden, leicht vibrierenden schwarzen Linien an den Kanten ihre Raumdynamik.

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