21.04.2023

Event

Architekturbiennale Venedig 2023 als Zukunftslabor

Die Architekturbiennale 2023 in Venedig lädt unter dem Motto Zukunftslabor ("Laboratory of the Future") ein, die diesjährigen Fokusthemen Dekolonisation und Dekarbonisierung zu erkunden. Ⓒ La Biennale di Venezia

Die diesjährige Architekturbiennale Venedig setzt sich unter dem Motto „Zukunftslabor“ mit der Zukunftsfähigkeit der Architektur als Ganzes auseinander. Nachhaltigkeit, Jugend und der Kontinent Afrika stehen im Zentrum des anspruchsvollen Programms, kuratiert von der ghanesisch-schottischen Architektin Lesley Lokko. Die beiden Fokusthemen sind nicht minder am Punkt der Zeit: Dekolonisation und Dekarbonisierung.


Afrikanische Diaspora unter der Lupe

Die Architekturbiennale in Venedig ist das Ereignis des Jahres für Architektinnen und Architekten. Alle, die an aktuellen Tendenzen in der Branche interessiert sind (und Menschenmassen nicht scheuen), pilgern in die Stadt an der oberen Adria und nehmen teil an der Prozession der zweijährlichen Auferstehung. 2023 lautet das Motto „Laboratory of the Future“ („Zukunftslabor“). Ein ambitioniertes Feld, das sorgfältig beackert werden will.

„Diese “Geschichte” der Architektur ist unvollständig. Nicht falsch, aber unvollständig.“ – Kuratorin Lesley Lokko

Besonders in diesem Jahr wird mit hohen Erwartungen gen Süden geblickt, denn selten hat die Architektur als Ganzes in einem größeren Dilemma gesteckt wie heute. Man sieht Architektur als hehre Kunst der baulichen Gestaltung, eigentlich dem Wohlwollen und Funktionieren der Gesellschaft verschrieben. Doch genau sie ist es, die für einen großen Teil der Klimakrise verantwortlich zeichnet. CO2-Emissionen, Bodenversiegelung, Ressourcenverbrauch, schlechte Arbeitsbedingungen, Diskriminierung – das sind nur einige der Problemstellen der Branche. Dem gerecht werden möchte Kuratorin Lesley Lokko. Mit dem “Zukunftslabor” gibt die ghanesisch-schottische Architektin, Wissenschaftlerin und Autorin einen Einblick in die Felder ihrer Expertise. Im Jahr 2020 hat sie das African Future Institute gegründet, an dem sie aktuell die Leitung inne hat. Ihrer Meinung nach ist Afrika der Ort, an dem sich die Zukunft manifestieren wird. Die Architekturbiennale widmet sich daher genauer diesem Kontinent und seiner Diaspora.


Die Unvollständigkeit der Architekturgeschichte

Die afrikanischstämmigen Migrantinnen und Migranten sind auf der ganzen Welt verstreut, was Lokko zu der Frage inspiriert, was Kultur eigentlich ist. Während oftmals die Kultur als die Summe unserer Erzählungen definiert wird, muss man ihrer Meinung nach einen Schritt weitergehen und infrage stellen, wer dieses „Wir“ ist, das die Geschichten weitererzählt: „Gerade in der Architektur gibt es diese dominierende Stimme, die historisch schon immer eine einzelne, exklusive Stimme war, die in Reichweite und Kraft jedoch weite Teile der Menschheit ausgeklammert hat – sei es finanziell, schöpferisch oder konzeptionell – so als ob wir mit nur einer Stimme sprechen würden. Diese “Geschichte” der Architektur ist daher unvollständig. Nicht falsch, aber unvollständig“, so Lokko. Genau hier soll die Ausstellung der diesjährigen Biennale anknüpfen, und die Geschichte weitererzählen. Der Fokus liegt dabei auf jungen und kleinen Teams. Mit beinahe 50 Prozent ist der Anteil an Teams mit bis zu fünf Personen besonders hoch, das Durchschnittsalter liegt bei 43 Jahren.

Präsident Roberto Cicutto und Kuratorin Lesley Lokko legen bei der Architekturbiennale 2023 den Fokus unter anderem auf Jugend, Nachhaltigkeit und Dekolonisation. Photo: Andrea Avezzu / La Biennale di Venezia
Biennale-Präsident Roberto Cicutto und Kuratorin Lesley Lokko. Photo: Andrea Avezzu / La Biennale di Venezia

Welche Biennale?

Auch Lokko und ihr Team haben den Begriff des Architekten – immerhin das handelnde Subjekt einer Architekturbiennale – im Vorhinein seziert. Als Ergebnis werden die Teilnehmenden an der Biennale nicht als Architektinnen geführt, sondern als Praktikerinnen und Praktiker. Dies soll die Augen öffnen für die Tatsache, dass Architekturschaffende eben nicht ausschließlich nur Architekten sind, sondern dazu eine diverse Vielzahl an Professionen zählen. Bewusst sollen Landschaftsarchitekten, Akademikerinnen, Designer, Stadtplanerinnen und andere unter dem Begriff der Praktikerinnen und Praktiker verstanden werden. Man erhofft sich also, die bereits angesprochene Durchmischung nicht nur in kultureller und ethnischer Hinsicht, sondern auch auf einer fachlichen Ebene zu erreichen und die Fantasie in den Köpfen der Besucherinnen und Besucher anzuregen.

In der diesjährigen Architekturbiennale Venedig wird erstmals das Kuratorinnenprojekt genauso umfangreich ausfallen wie die anderen Ausstellungen. Lesley Lokkos „Guests from the Future“ („Gästinnen und Gäste aus der Zukunft“) umfasst junge afrikanische und diasporische Künstlerinnen und Künstler. Diese setzen sich explizit mit den beiden Hauptthemen der Architekturbiennale Venedig 2023 (Dekolonisation und Dekarbonisierung) auseinander.

Vertreten sind unter anderem:

  • Jürgen Strohmayer und Glenn DeRoché (Accra, Ghana)
  • Miriam Hillawi Abraham (Addis Abeba, Äthiopien)
  • MOE+ Art Architecture (Lagos, Nigeria)
  • New South (Paris, Frankreich)
  • Rashid Ali Architects (Hargeisa, Somali; London, England)
  • Cartografia Negra (São Paulo, Brasilien)
  • Ibiye Camp (London, England)
Roha: The Heretic's Saga („Roha: Die Sage des Ketzers“), Illustration 2019. Ⓒ Miriam Hillawi Abraham
Campbell Street, Freetown Data: The New Black Gold 3D Model (Das neue Schwarze Gold, 3D-Modell), 2019. Ⓒ Ibiye Camp

Kritische Auseinandersetzungen im Deutschen Pavillon

Auch die Anzahl der teilnehmenden Nationen ist gestiegen. 2023 wird der afrikanische Binnenstaat Niger erstmalig partizipieren und Panama feiert die Premiere eines eigenen Pavillons. Im Deutschen Pavillon wird unterdessen an einer Erneuerung gearbeitet. Mit dem Thema „Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet“ setzt sich das Kuratorinnenteam (bestehend aus einem Redaktionsteam der Zeitschrift ARCH+, dem Architekturbüro Summacumfemmer und dem Büro Juliane Greb) kritisch mit der zeitgenössischen Materialverschwendung in der Architektur, aber auch im eigenen Beitrag der Architekturbiennale Venedig 2023 auseinander.

Welche Highlights es bei der Architekturbiennale 2021 – die erste nach der Corona-Pause – gab, ist hier nachzulesen. Chefredakteur Fabian Peters hat sich unter anderem die Pavillons der Länder Usbekistan, Dänemark, Österreich und der Vereinigten Staaten von Amerika näher angesehen.


Der Ausgangspunkt für die Zukunft und das Biennale College Architettura

Roberto Cicutto, Präsident der Biennale Venedig, erklärt, dass es für ein Arbeiten an der Zukunft notwendigerweise auch einen gemeinsamen Ausgangspunkt braucht. Für Lokko ist dieser Punkt Afrika, mit seinen ökonomischen, klimatischen und politischen Charakteristika. Ihre Wahl ist dabei nicht nur autobiografisch, wie sie erklärt: „Das, was im Rest der Welt gerade passiert, hat Afrika bereits erlebt. Arbeiten wir gemeinsam daran zu verstehen, warum wir auf dem falschen Pfad sind und wie wir uns der Zukunft stellen können.“ Die Architekturbiennale Venedig ist in der Verantwortung, dieses Vorhaben aufzugreifen, ist sich Roberto Cicutto sicher. Die Architektur als Ganzes soll dabei eine Vorreiterrolle für andere Disziplinen sein.

Dabei wird neben dem „Karneval“, einem sechsmonatigen Begleitprogramm aus Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Filmvorführungen und Performances, auch auf ein neues Konzept gesetzt: Mit dem „Biennale College Architettura“ wird jungen Praktikerinnen und Praktikern die Chance ermöglicht, mit fünfzehn international renommierten Tutorinnen und Tutoren zusammenzuarbeiten.

Dem internationalen Bewerbungsaufruf sind fast tausend Menschen gefolgt. Fünfzig davon werden vom Dokumentarfilmer Ángel Borrego Cubero dabei begleitet, wie sie neue Wege finden – nicht nur im Umgang mit dem diesjährigen Leitthema (Dekolonisation und Dekarbonisierung), sondern auch im Hinblick auf kritisches Denken und kreativer Energie. Dies ist nämlich nur der Beginn eines Begleitprojekts abseits der Ausstellungen, welches die Biennale in ihrer Konstitution langfristig begleiten und beeinflussen soll.

Pritzker-Preisträger Francis Kéré wird in der Ausstellung „Force Majeur“ („Höhere Gewalt“) im Giardini zu sehen sein. Am Bild zu sehen ist der Architekt in der Gando Bibliothek 2011. Photo: Nataniel Sawadogo Ⓒ Kéré Architecture

CO2-Neutralität als Kampfansage

Die Architekturbiennale Venedig 2023 hat sich weiterhin der Reduktion ihrer CO2-Emissionen verschrieben. Erstmals als Veranstaltung in Venedig zertifiziert CO2-neutral war das 78. Internationale Filmfestival 2021. Dieses zur Nachahmung erkorene Vorbild beeinflusst nicht nur die Organisation der Biennale erheblich, sondern ebenso Design, Einrichtungen und Durchführung aller Events. Laut der Zertifizierung von RINA ist man offiziell nach dem International Standard PAS2060 CO2-neutral.

Wie viele andere Unternehmen erreicht die Architekturbiennale dieses Ziel einerseits durch Reduktion der Emissionen und andererseits durch den Zukauf von CO2-Zertifikaten. Solche Zertifikate sind eine Art des finanziellen Ausgleichs von getätigten Emissionen durch die Unterstützung klimaschützender Maßnahmen. In diesem Fall sollen Projekte in Indien und Kolumbien unterstützt werden. Die Reduzierung des CO2-Ausstoßes wird unter anderem durch folgende Maßnahmen erreicht:

  • Verwendung erneuerbarer Energien
  • Reduktion von Materialeinsatz und bewusstes Recycling für Reststoffe
  • Wiederverwertung der Ausstellungsmaterialien und Ausstattung
  • Fokus auf regionale und vegetarische Verpflegung
  • Optimierung der Logistik

Auch bei den zukünftigen Biennalen soll dieses Konzept Anwendung finden und weiter ausgearbeitet werden, um einen langfristigen Nutzen daraus zu ziehen. Für das Problem, dass auch Besucherinnen und Besucher durch die individuelle Anreise CO2 ausstoßen, möchte man zukünftig auch Aufmerksamkeitskampagnen lancieren.


Architekturbiennale in Venedig 2023

Die Architekturbiennale in Venedig findet vom 20. Mai bis 26. November 2023 statt.

Öffnungszeiten:

20. Mai bis 30. September: 11 bis 19 Uhr

1. Oktober bis 26. November: 10 bis 18 Uhr

Montags mit Ausnahmen geschlossen, nähere Infos finden Sie auf der Homepage der Architekturbiennale.

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