06.11.2017

Öffentlich

Wie gestaltet man fahrradfreundliche Architektur ?


Stadtentwicklung entlang der Radbahn

Alles begann an einem regnerischen Tag in Berlin und einem Anruf mit der simplen Frage: „Sag mal, warum kann man unter der U1 nicht Fahrrad fahren?“ Darauf wusste der Architekt Matthias Heskamp, der Angerufene, keine Antwort, und so setzte er sich mit dem Anrufer, einem Freund aus Finnland und einem weiteren Architekten zusammen. Das Trio begann, wilde Skizzen anzufertigen. Stadt- und Verkehrsplaner, Marketingexperten und BWLer schlossen sich ihnen an. Die Gruppe vereinte eine Vision: Eine etwa acht Kilometer lange Strecke unter der Berliner U-Bahnlinie 1 für Fahrräder befahrbar zu machen. Überdacht, kiez-übergreifend, intermodal. Sie entwarfen schließlich – ehrenamtlich – ein komplettes Mobilitätskonzept und nannten es Radbahn.

Die Berliner U1 ist die älteste U-Bahnlinie der Stadt, eröffnet 1902, größtenteils errichtet als aufgeständerte Hochbahn. Im November 2015 veröffentlichte das Radbahn-Team, welches sich mittlerweile als Verein „Paper planes e.V.“ gegründet hat, die ersten groben Entwürfe für die Neunutzung unter den Stahlträgern. „Uns war klar, dass diese frühen Skizzen überzeichnet und so nicht umsetzbar waren“, erzählt Heskamp rückblickend. Der freiberufliche Architekt hat Bodenhaftung, er hatte zuvor bei Álvaro Siza und David Chipperfield Architects gearbeitet. „Doch wir weckten damit starke Emotionen und setzten die Diskussion in Gang.“ Spielerisch entwarf die Gruppe einen Ort, der mehr als nur ein Radweg sein sollte. „Radfahren sollte Spaß machen! Außerdem kann dort die Mobilität der Zukunft stattfinden“, fasst Heskamp die Motive zusammen.

Es folgte ein zweiter, überarbeiteter Mobilitätsentwurf, veröffentlicht Ende Mai dieses Jahres. In diesem verläuft eine überdachte Radspur diagonal zu den großen Ausfallstraßen, von der Oberbaumbrücke bis zum Bahnhof Zoologischer Garten. Sie durchquert drei Kieze und kreuzt neun Bahnhöfe. „Unsere Ideen sind aus dem Raum an sich entstanden: Wenn Sonne auf die stählerne Architektur der Bahnstrecke fällt, dann erinnert diese an eine Kathedrale“, erzählt Heskamp. „Wir möchten den Raum mit der Integration weiterer architektonischer Elemente, hauptsächlich Licht, anmutend darstellen und den Nutzern ein sicheres Gefühl bieten.“
Der Entwurf zeigt Cafés, Werkstätten, Strände und Bänke, Orte für Kreativität und Start-Ups. Eine eigens erstellte Potenzialstudie zeigt auf, inwiefern sich steigender Radverkehr positiv auf Mensch und Umwelt auswirken soll: wirtschaftliches Wachstum, Freiheit und soziale Teilhabe, Begegnungszonen, Gesundheitsförderung und Umweltschutz aufgrund von klimafreundlichem Verkehr zählen für das Radbahn-Team dazu.

Schnittstellen zwischen Verkehrsteilnehmern organisieren

Eine nachhaltige Stadtentwicklung, weg vom fossilen Verkehr, hin zu umwelt- und menschenfreundlichen Mobilitätskonzepten, ist der häufigste Grund für Städte, fahrradfreundliche Radwege umzusetzen. Dies ist auch der Antrieb für Heskamps Radbahn-Team. Sie setzen auf den gesellschaftlichen Wandel und möchten die Qualität des Außenraums steigern. Und gleichzeitig die intermodale Mobilität vorantreiben: „Wir denken Verkehrsmittel nicht allein, sondern immer im Zusammenspiel“, erklärt der Architekt. „Die Infrastruktur von morgen wird geprägt sein von Elektromobilität und erneuerbaren Energien, von der Digitalisierung und Sharing-Economy.“

Das Mobilitätskonzept der Radbahn-Planer setzt den Radweg in die Mitte der Fahrbahnen. „Ein Radweg in Mittellage erfordert strategisches Umdenken, da völlig neue straßenrechtliche und technische Situationen entstehen“, erzählt Heskamp. „Es gibt Beispiele, wo das bereits erfolgreich umgesetzt wurde, etwa in Barcelona. Sich jedoch damit in die Köpfe der Berliner Verwaltungsbeamten vorzuarbeiten, dazu braucht es viel Energie.“ Architektonisch herausfordernd zeigten sich viele der Kreuzungen. Vor allem die, die sich mittig befinden und wo der Radweg eigentlich ausweichen müsste. Die Frage, wie man die Schnittstellen zwischen den Verkehrsteilnehmern organisiert und wie die Hierarchie unter diesen funktioniert, beschäftigte Heskamp und seine Kollegen lange.

Vorbilder im Ausland

Fahrradfreundliche Infrastruktur findet sich bereits großflächig in Holland. Der Fahrradparkplatz im größten europäischen Bahnhof Utrecht beispielsweise. „Jaarbeursplein“ nutzt den Platz unter der neu erbauten Treppe am Hauptbahnhof. Die breite Treppe bietet unter sich Raum für aktuell rund 4.300 Fahrräder: Die Doppeldecker-Abstellplätze verteilen sich auf drei Etagen und 37 Reihen.
Nutzerfreundlichkeit wird hier großgeschrieben: Die Ebenen in kräftigen Farben gehalten, jede Reihe und jeder Platz nummeriert. Die oberen Etagen näher dran an den Gleisen und der Eingangsbereich liegt unten, was zu einer gleichmäßigen Radverteilung führt. Es gibt flache Stufen mit Schiebeschienen für die Räder. Bis Ende 2018 soll die Anzahl der Fahrradparkplätze auf 12.500 steigen. Ganze 40 Prozent der Passagiere kommen mit dem Fahrrad zum Utrechter Hauptbahnhof. Daher sieht die Stadt die Notwendigkeit der Vergrößerung, ist sich aber bewusst, dass selbst diese die Abstellnot nur mäßig lindern werden.

Auch außerhalb Europas nimmt das Fahrrad allmählich mehr Raum im Stadtverkehr ein und manche Behörden unterstützen diese Entwicklung aktiv. So in der süd-ost-chinesischen Millionenstadt Xiamen. Hier entstand 2016/2017 der knapp acht Kilometer lange „Xiamen Bicycle Skyway“, entworfen vom dänischen Architekturbüro Dissing + Weitling. Als eine Art Zwischengeschoss zwischen PKW- und Busfahrbahn fügt sich die 4,80 Meter breite Stahlkonstruktion in das Geflecht aus Straßen und Brücken ein. Die Radautobahn durchläuft fünf Wohngebiete und drei Wirtschaftszentren der chinesischen Metropole. Es gibt elf Ein- und Ausgänge, die mit elf Bus- und zwei Bahnhaltestellen verbunden sind.

Prinzipien der Barrierefreiheit

Aus derselben Planer-Feder entstammt die hochgelobte und vielfach ausgezeichnete Cyclesnake in Kopenhagen, ebenfalls eine Fahrradbrücke. Die „Bycicle Snake“ wurde 2014 fertiggestellt und ist 230 Meter lang, eingebettet in den Hafen. Kopenhagen möchte Fahrradhauptstadt werden und ist auf dem besten Weg dorthin: In den vergangenen zwanzig Jahren stieg der Anteil Fahrradfahrender um 68 Prozent. Heute gibt es rund 266.000 Fahrräder in der Stadt, mehr als Autos.
Ein fahrradfreundliches Wohn- und Hotelgebäude setzte das deutsch-schwedische Architekturbüro Hausschild + Siegel mit dem „Cykelhuset OhBoy“ in Malmö um. Im Erdgeschoss befindet sich ein Fahrradhotel mit 31 Loft-Hotelzimmern, darüber das Wohnhaus mit 55 Wohnungen auf sieben Etagen. Die Architekten entwarfen das Fahrradhaus, sie sind Bauherren, Eigentümer und Betreiber des Hotelbetriebs.

Die Fahrradfreundlichkeit gründet auf den Prinzipien der Barrierefreiheit. Aufzüge und Wohnungseingänge wurden extra breit gestaltet, um Räder bequem durchzuschieben. Die Aufzug-Türen öffnen in zwei Richtungen und Laubengänge automatisch. Im gesamten Wohnblock kann man sich ohne Barrieren mit dem Rad bewegen, wie Architekt und Inhaber Cord Siegel in einem Interview betont. Außerdem sei das Gebäude eine Hommage an den grünen Brutalismus, mit Fokus auf Umweltfreundlichkeit und Begrünung. Dafür verwendeten sie lokale Materialien und setzten auf eine Niedrig-Energie-Bauweise.

Raum für Erfinder

Als Motivation gibt Siegel an, Autofreiheit für Bewohner und Gäste ermöglichen zu wollen. Per Bikesharing können diese Transport- und Lieferräder mieten. Dies sei der erste autofreie Wohnbau in Schweden, daher hat der Architekt bei der Stadt extra einen Antrag gestellt, um keine KFZ-Parkplätze bauen zu müssen.
Für Architekten öffnet sich hier ein weites Feld: von Infrastrukturprojekten über Stadtentwicklung hin zum Wohnungsbau lässt sich Fahrradfreundlichkeit kreativ gestalten.

Lesen Sie auch: Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur stiftet sieben Professuren für Radverkehr.

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