„Bierpinsel“, „Mäusebunker“ und ICC sind krisengeschüttelte Wahrzeichen West-Berlins aus den Siebzigerjahren. Lange Jahre wurden sie als ungeliebte Hinterlassenschaften der Spätmoderne vernachlässigt. Mit der Wiederentdeckung des Brutalismusist eine Architekturströmung, die in den 1950er Jahren in England entstanden ist. Dabei werden oft rohe, unverputzte Betonflächen verwendet, die dem Bauwerk eine grobe und kraftvolle Erscheinung verleihen. Brutalismus wurde oft verwendet, um sozial- oder öffentliche Bauten wie Schulen, Wohnblocks oder Bibliotheken zu gestalten. Der Begriff Brutalismus geht zurück auf… wird ihnen nun aber wieder viel Interesse entgegengebracht, wie eine Ausstellung bis zum 18. September 2023 in der Berlinischen Galerie unter Beweis stellt.
Siebzigerjahre Gebäude ohne Wirkung
Die Ausstellung „Suddenly Wonderful“ in der Berlinischen Galerie widmet sich drei Berliner Architekturprojekten der Siebzigerjahre, die in dieser Form wohl nur in dieser Zeit und an diesem Ort entstehen konnten – in der „Frontstadt des Westens“, im „Schaufenster des Kapitalismus“. Der „Bierpinsel“, der „Mäusebunker“ und das ICC waren und sind drei verschrobene, geldverschlingende, unangepasste Gebäude. Damit ähneln damit sie ein wenig West-Berlin selbst. Kein Wunder, dass Sie in der wiedervereinigten Stadt nicht mehr recht ihren Platz fanden. Im Unterschied etwa zu den Projekten der IBA 87, haben die drei Bauten, die „Suddenly Wonderful“ beleuchtet, praktisch keine Wirkung in der Architekturlandschaft entfaltet. Bierpinsel, Mäusebunker und ICC sind ohne die besondere Stellung West-Berlins kaum denkbar, wo die Gesetze, die für öffentliche Bauten in West-Deutschland galten, zuweilen aufgehoben waren.
Das Internationale Congress Centrum
Der Bau des ICCs mit Kosten von beinahe einer Milliarde D-Mark ist, wie vielfach festgestellt wurde, nur vor der Folie der Systemkonkurrenz und als Reaktion auf den Palast der Republik erklärbar. Trotz seiner innovativen Architektur blieb das gewaltige Kongresszentrum eine Fußnote der Architekturgeschichte und fand keine Nachfolge. Der Ruhm eines Münchner Olympiastadions – auch dies ein exorbitant teures Einzelstück – blieb dem ICC verwehrt. Die seit Langem notwendige Renovierung des Baus wurde auch deshalb immer wieder verschoben, weil bis heute ein finanziell tragfähiges Konzept für den Betrieb fehlt. Sogar ein Abriss stand im Raum. Die nun geplante kulturelle Nutzung verabschiedet sich folgerichtig von der Idee, das ICC als Kongresszentrum kostendeckend zu betreiben.
Der Bierpinsel
Noch weniger als das ICC gehorcht der sogenannte Bierpinsel, ein auf fast 50 Meter Höhe aufgeständertes Restaurant direkt am Berliner Ring A100, herkömmlichen Kosten-Nutzen-Rechnungen. Die Architekten beider Bauten sind dieselben: Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte. Das Architektenehepaar entwarf den Turm aus eigenem AntriebAntrieb: Ein Antrieb bezieht sich auf ein Gerät oder einen Mechanismus, der eine Bewegung oder Rotation erzeugt, z.B. ein Motor oder eine Kurbel. als Landmarke am U-Bahnhof Schlossstraße. Wie das ICC konnte auch der Bierpinsel kaum je kostendeckend betrieben werden. Derzeit ist eine Restaurierungbezeichnet die wissenschaftliche und handwerkliche Wiederherstellung von Kunst- und Kulturgütern. Dabei wird versucht, den ursprünglichen Zustand des Objekts möglichst originalgetreu wiederherzustellen und dabei dessen Geschichte, Materialität und Formgebung zu berücksichtigen. des inzwischen reichlich heruntergekommenen Bauwerks geplant. Die signifikante rote Verkleidung des Bierpinsels soll dabei allerdings einer Grünfassade weichen – eine schlechte Entscheidung, denn damit wird diesem „Folly“ ein wesentliches Charakteristikum genommen.
Der Mäusebunker
Beim sogenannten Mäusebunker, den ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien der Freien Universität in Berlin-Steglitz war der Abriss schon beschlossenen Sache. Bürgerschaftliches Engagement und die Berliner Denkmalpflege retteten den außergewöhnlichen Bau von Gerd und Magdalena Hänska sowie Kurt Schmersow in letzter Minute. Zwar sind Schiffsmotive in der Architektur häufig – hier jedoch haben die Architekten einen monströsen Panzerkreuzer aus Beton errichtet. Dass diese Assoziation gewollt war, kann kaum bezweifelt werden. Zu klar lassen sich die einzelnen Architekturteile als Brücke, SchornsteinSchornstein: Ein Schornstein ist eine Abgasleitung, die dazu dient, die verbrauchte Luft von Heizungsanlagen oder Kaminen nach außen abzuleiten. und Geschützrohre identifizieren. Warum sich die Hänskas und Kurt Schmiesow sich für diese martialische Formensprache entschieden, bleibt in der Ausstellung unbeantwortet. Auch beim Mäusebunker wird es zukünftig nicht einfach werden, eine geeignete Nutzung zu finden.
Furioses Comeback des ICC
Glücklicherweise haben alle drei Bauten trotz (oder vielleicht auch wegen) ihrer Unangepasstheit und ihrer unübersehbaren Schwächen inzwischen viele Fürsprecher. Darauf spielt der Ausstellungstitel „Suddenly Wonderful“ an. Das ICC erwachte im vergangenen Jahr kurz aus dem Dornröschenschlaf und feierte ein furioses Comeback als Aufführungsort des Kunstprojekts The Sun Machine Is Coming Down im Rahmen der Berliner Festspiele. Der Andrang war enorm.
Erhalt der Gebäude wird zur Herausforderung
Identifikationsobjekt, Zeitikone, Hypothek – das sind diese drei Architekturen gleichermaßen. Ihre Unvernunft begeistert und bereitet große Schwierigkeiten. Bei allem guten Willen – es wird schwierig bleiben, langfristig tragfähige Nutzungen für die Gebäude zu finden. Dadurch wird ihr Erhalt wahrscheinlich auf Dauer zur Herausforderung. Das wird gerade durch die in der Ausstellung gezeigten Nutzungskonzepte deutlich, die Architekten, Künstler und Initiativen in den letzten Jahren vorgeschlagen haben. Andererseits belegen diese vielfach fantastisch anmutenden Pläne, wie inspirierend die ein halbes Jahrhundert alten Architekturen inzwischen wirken.
Die Ausstellung „Suddenly Wonderful. Zukunftsideen für Westberliner Großbauten der 1970er Jahre“ findet noch bis zum 18. September 2023 in der Berlinischen Galerie statt. Mehr Informationen zur Ausstellung gibt’s hier.
Noch älter als die drei Siebzigerjahrebauten ist das Berliner Olympiastadion. Lesen Sie hier alles über seine Architektur.