28.09.2015

Wohnen

Shabbyshabby: Übernachten in der Badewanne

Der Brunnen ist nach dem Umbau zum Appartement nicht mehr zu erkennen.

München debattiert über die Wohnungsnot. Das ist gut. Vor einigen Tagen hat unser Redakteur Alexander Russ seine kritische Sicht des Shabbyshabby-Projekts des neuen Intendanten der Kammerspiele artikuliert. Heute setzt Baumeister-Autorin Julia Hinderink dem einen Erfahrungsbericht entgegen.

Es ist der Einstieg Matthias Lilienthals in München: Als neuer Intendant der Kammerspiele rief er zusammen mit Raumlabor Berlin die Aktion „Shabbyshabby Apartments“ ins Leben. Die Idee: an verschiedenen Plätzen in der Innenstadt provisorische Unterkünfte zu planen, die auf die prekäre Wohnungssituation in München anspielen sollen. Vorgabe war, dass die Errichtung der Apartments nicht mehr als 250 Euro kosten sollte – shabbyshabby eben. Aus über 250 Einreichungen aus der ganzen Welt wählte die Jury 24 Entwürfe aus. Ein Team der Kammerspiele beantragte die Genehmigung für die meist als Zelte bezeichneten Gehäuse und begleitete die Durchführung.

Schon bei der Vorstellung der Apartments nach der Jurysitzung hatte ich große Lust bekommen, an diesem performativen Stadtexperiment teilzunehmen. Schnell war auch das präferierte Objekt ausgewählt. So verbrachte ich am Donnerstag nach Eröffnung eine Nacht in der „Fountain of Fortune“, dem umgebauten Fortunabrunnen am Isartor.

Zunächst die Architektur: Die Konstruktion des Apartments ist nicht nur intelligent überlegt, sondern auch ästhetisch ansprechend umgesetzt. Die vorhandene Winterabdeckung aus Holz, die jeden Brunnen in München vor Frostschäden schützt, ist aufgeständert, der entstehende Zwischenraum mit liegenden Holzlamellen geschlossen. So entsteht ein halbwegs geschützter Innenraum, der über die Lamellen dennoch transparent bleibt.

Den achteckigen Brunnen betritt man von der Straßenseite aus über eine kurze Leiter außen und innen. Die Holztür lässt sich mit einem Vorhängeschloss auch von innen verriegeln. Der Brunnenraum erscheint groß und durch die fast runde Form gemütlich. Die Skulpturen in der Mitte des Raumes wirken auf den ersten, von Taschenlampen erleuchteten Blick eher unheimlich. Im Laufe des Abends freunden wir uns aber mit den vier Meerjungfrauen an und finden heraus, dass sie manchmal die Augen weit aufgerissen haben und manchmal friedlich geschlossen – je nachdem, wie man den Strahl der Taschenlampe auf sie fallen lässt.

Auf dem Bett liegend, sind wir weitgehend vor Blicken geschützt. Ein Kindheitswunsch, in einer Badewanne zu übernachten, fällt mir wieder ein. Die innen angebrachten Vorhänge halten den Wind etwas ab und verstärken das Gefühl von Schutz und Geborgenheit im Öffentlichen.

Kurz nach Bezug des Apartments bekommen wir Besuch. Zum Teil geladene, zum Teil ungeladene Gäste, die alle etwas mitbringen. Ein Passant hatte sich von mir zuvor das Konzept der Shabbyshabby Apartments erklären lassen. Jetzt kommt er mit einer Flasche Prosecco, vier Gläsern und einem Freund im Schlepptau vorbei. Zwischenzeitlich ist der Brunnen voller Freunde. Ab und zu kommt ein Journalist oder Fotograf vorbei. Gegen Mitternacht beschließen wir, zuzusperren und eine Runde zu drehen, um in der Nähe liegende Apartments zu besuchen. Vor den Kammerspielen finden wir eine Gruppe Radiojournalisten, die im „Parking Loft“ auf der Maximiliansstraße übernachten und alles und jeden seit Stunden aufnehmen.

Nächste Station Max-Josef-Platz. Sehr amüsant die Erzählungen der zwei Frauen, die dort in einer kleinen Erdhütte schlafen. Zeitgleich findet in der Oper ein Charity-Event statt. Wohltätige Menschen in Frack und bodenlangen Abendkleidern, mit weißen Tüten ausgestattet, kommen elegant die Treppen herunter. Wir sind neugierig, was in den weißen Tüten ist, und kommen mit zwei jungen Paaren in Abendrobe ins Gespräch. Die Goodybag mit teurer Kosmetik, Pralinen und einem silbernen Schmuckstück schenken sie uns. Am anderen Ende des Spektrums kommen wir an den Obdachlosen im Maximilians Forum vorbei, die vor einem weiteren Shabbyshabby Apartment – „die Tür“ in der warmen trockenen Unterführung schlafen. Ohne Sichtschutz und Vorhängeschloss.

Zurück in unserem Apartment, ziehen wir die Vorhänge zu und legen uns in die frisch bezogenen Betten. Ausgestattet mit Wollsocken und doppelter Skiunterwäsche wird mir im Laufe der Nacht viel zu warm. Die Geräusche sind nicht unbekannt, aber viel näher an meinem Ohr.

Vor unserem Apartment sitzt auf der Parkbank unser persönlicher Sicherheitswachmann, ein junger Mann, der die ganze Nacht durch mit den anderen Sicherheitsleuten telefoniert, die vor den anderen Shabbyshabby-Apartments postiert sind. Wir bekommen später in der Nacht den Gegenbesuch der Radioleute. Wir schlafen schon (es ist jetzt halb drei Uhr morgens), aber die Jungs bestehen darauf, sich den Brunnen von innen anzusehen.

Knapp drei Stunden später werden wir durch den Lärm des Straßenreinigungs-Kamikazewagens geweckt. Verschlafen steigen wir aus dem Brunnen und radeln müde, aber beschwingt von dem Rest Abenteuerlust nach Hause. Ein Frühstück in den Kammerspielen bringt alle Shabbyshabby-Bewohner nochmal zusammen. Individuelle Geschichten werden zu einem großen gemeinsamen Erlebnis zusammengeknüpft.

Nun kann man viel Kritik anbringen an der Aktion: Zu spaßig für so ein ernstes Thema, ein Tropfen auf den heißen Stein, erreicht nicht annähernd die breite Öffentlichkeit, die es braucht um ein anderes Bewusstsein zu vermitteln. Und so weiter. Trotzdem empfehle ich jedem einzelnen Münchner dieses Experiment. Den Mut, aus der eigenen Komfortzone herauszugehen. Nicht zu wissen, was in der Nacht geschieht. Ob man schlafen kann oder aufgrund der ungewohnten Geräusche kein Auge zumacht. Ob man, der Öffentlichkeit ausgesetzt, die notwendige Entspannung findet, um zu schlafen. Wie man mit Fremden umgeht, die einen besuchen möchten. Wo man Grenzen zieht. Jedes bisschen Komfort und jedes Geschenk wird wichtig. Wie schön, dass die Erbauer an Vorhänge gedacht haben. Wie gut, dass dort draußen jemand sitzt und aufpasst. Und wie gut, dass wir nur positive Begegnungen hatten. Dass niemand kam und uns blöd angeredet hat.

Es geht mit Sicherheit nicht darum, diese Apartments als ernsthafte Lösungsansätze für die Probleme der Flüchtlingsunterbringung zu sehen. Oder als Beispiele für günstigen Wohnraum. Es geht darum, dass man sich sehr konkret und direkt als ein Teil der Stadt begreift, wenn man dort übernachtet. Das Gefühl, ausgesetzt zu sein, lässt einen sehr viel nachsichtiger über die Nöte und Bedürfnisse der Menschen nachdenken, die kein Zuhause haben.

Ich wurde von der eigenen Familie gefragt, warum ich dort übernachten möchte. Die Antwort: Ich würde mir mein Leben lang vorwerfen, es nicht getan zu haben. Die Möglichkeit, in der eigenen Stadt ein Abenteuer zu erleben und performativ am Stadtleben teilzunehmen, hätte ich nicht missen wollen. Und ich werde wohl nie wieder am Isartor vorbeiradeln, ohne an diese Nacht im Brunnen zu denken.

Fotos: Julia Hinderink

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