01.03.2022

Projekte

Nadim Karam: „Ein Kunstwerk muss dazu anregen, den Ort zu hinterfragen, bis er wieder zur neuen Normalität wird.“

Nadim Karam ist ein multidisziplinärer libanesischer Künstler und Architekt. Er ist bekannt für seine groß angelegten urbanen Kunstprojekte

Nadim Karam ist ein multidisziplinärer libanesischer Künstler und Architekt. Er ist bekannt für seine groß angelegten urbanen Kunstprojekte

Nadim Karam ist ein multidisziplinärer libanesischer Künstler und Architekt. Er ist bekannt für seine groß angelegten urbanen Kunstprojekte, die überall auf der ganzen Welt zu finden sind. Seinen nahezu kunstvoll-karikaturistischen Ansatz nutzt er, um Narrative in urbanen Settings zu erzeugen, die auf ein Vokabular von Formen zurückgreifen, ein Alphabet bilden. Im vergangenen Jahr schuf Karam das Kunstwerk „The Gesture“ – eine Skulptur erschaffen aus Trümmerteilen, die dem damals einjährigen Jahrestag der tödlichen Explosion im Hafen von Beirut gedenkt. Nadim Karam im Gespräch mit Adriaan Geuze, niederländischer Landschaftsarchitekt und Gründer von West 8.

 

Nadim Karam ist ein multidisziplinärer libanesischer Künstler und Architekt. Er ist bekannt für seine groß angelegten urbanen Kunstprojekte
„The Gesture“ von 2021 erinnert an die verheerende Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020. Foto: Nadim Karam Studio

 

Adriaan Geuze: Nadim, schön, dass wir die Gelegenheit haben, miteinander zu sprechen! Ich glaube, dass wir in unseren beiden Berufsfeldern über Disziplinen hinweg arbeiten,  und dass wir auch verschiedene Titel tragen: Landschaftsarchitekt, Architekt, Ingenieur, Künstler und Dichter… Wie Sie ja wissen, können die Grenzen zwischen Disziplinen verschwimmen. Meiner Meinung nach beeinflussen die Endergebnisse und die Prozesse hinter einem Projekt seine Klassifizierung als Kunst, Infrastruktur oder Architektur.

Nadim Karam: Das ist richtig. Als Architekt betrachte ich die Stadt als einen Organismus mit Systemen, Strukturen und Räumen, die funktionieren müssen. Als Künstler möchte ich mit der Seele und der Energie der Stadt interagieren. Ich sehe mich als Künstler, der Projekte in der Größenordnung eines architektonischen Werks, eines Gebäudes, durchaus realisieren kann. Meine Arbeit ist kontextbezogen; ich studiere Dinge, die mich umgeben, das Klima, die Topographie eines Ortes, seine Geschichte und Kultur. Die künstlerische Seite meiner Arbeit ist der Dialog mit der Stadt, sowie die Poesie und die Träume, die sich daraus ergeben. Als Architekt achte ich darauf, dass die technischen Details stimmen und dass das Endergebnis letztendlich mit der Stadt „korrespondiert“.

AG: Viele Ihrer Kunstprojekte sind im öffentlichen Raum angesiedelt. Die Werke konfrontieren uns mit dem Raum, den wir miteinander teilen – in dem wir leben, arbeiten und uns treffen. Der öffentliche Raum kann viele Definitionen und Erscheinungsformen haben, insbesondere aus künstlerischer Perspektive. Städte und Stadtplanung nutzen oft Kunst, um diese Räume zu definieren.

NK: Der öffentliche Raum bietet eine Möglichkeit, sich mit Stadt als Ganzes auseinanderzusetzen. Und plötzlich kann sich jeder mit deiner Arbeit, deiner Kunst im öffentlichen Raum verbinden. Solange ein öffentliches Kunstwerk eine Herausforderung für die Stadt darstellt, spiegelt es die Energie der Stadt wider. Ich habe die öffentliche Kunst immer als einen Traum innerhalb der Stadt verstanden. Ich denke auch, dass sie ihre Zukunft projiziert. Und sie hilft, die Geschichten des Ortes zu verstehen. Durch das Einbringen unserer eigenen Geschichten, schaffen wir eine neue Herausforderung oder eine Perspektive auf die Dinge. Wenn dies geschieht, bedeutet dies, dass die öffentliche Kunst ihre Aufgabe im Kontext eines öffentlichen Raums erfüllt.

 

Nadim Karam, Foto: Natasha Karam
Adriaan Geuze, Foto: Carel van Hees

 

AG: Warum ist der öffentliche Raum für Sie wichtig?

NK: Wir müssen öffentliche Räume mit fünf Sinnen erleben Sinnen und uns bewusst sein, wie wir auf unsere Umgebung reagieren. Das ist sehr wichtig in der heutigen Zeit, in der wir stundenlang vor den Bildschirmen verbringen. Wir müssen das damit kompensieren, indem wir uns im öffentlichen Raum aufhalten: auf einer Bank sitzen, Fahrrad fahren, Menschen sehen, in Parks und Gärten verweilen. Wir alle sind mit dem Gefühl aufgewachsen, dass es einen Ort gibt, der für uns gemacht wurde, mit uns und durch uns. Der öffentliche Raum ist unsere Essenz; er ist das, was uns verbindet, er sagt, wer wir sind; er ist der Ausgangspunkt. Wir sollten die Verbindung zu ihm nicht verlieren.

AG: Planung und Infrastruktur beeinflussen, wie öffentlicher Raum gestaltet wird. In der Landschaftsarchitektur, im Städtebau formen wir kontinuierlich den Raum selbst. Als Künstler, der seine Arbeit in diese Formen einschreibt, in diesen bestimmten Ort, kann man Teil des öffentlichen Raumes sein, oder auch nicht. Ich habe das Gefühl, dass Ihre Arbeit dazu beiträgt den öffentlichen Raum physisch, politisch und sogar radikal zu erschaffen.

NK: In meiner Arbeit geht es nicht nur darum, den Kontext und die Infrastruktur des Ortes zu verstehen. Ich versuche auch, die Erinnerung an den Ort zu finden, und die Geschichten, die der Ort hervorgebracht hat. Was sind die Grenzen des Raums? Wie definiert man die Geschichten und Erinnerungen, die durch den Raum entstanden sind? Was ist die Geschichte? Meine Arbeit geht von diesem Ort aus. Deshalb hat jedes Projekt in jeder Stadt eine andere Dimension, die zu den vorhandenen Komponenten, Daten und Konfigurationen gehört davon inspiriert wird. Natürlich verwende ich die Elemente meines eigenen ‚Alphabets“ oder Vokabulars, aber sie reagieren an jedem Ort anders.

AG: Der öffentliche Raum ist kein neutraler Ort. Die Menschen gehen dorthin, um ihre Freiheit auszudrücken, zu protestieren und sich mit anderen zu treffen. Das sind politische Handlungen. Öffentliche Kunst kann auch ein politisches Ambiente schaffen und und unter politischen Gesichtspunkten debattiert werden.

NK: Ja, und diese Räume der Freiheit sind wichtig: Jeder öffentliche Raum ist ein Ausdrucksraum, in dem Menschen zusammenkommen. Alles in einem öffentlichen Raum nimmt die Dimensionen seiner Umgebung auf. The Gesture, mein jüngstes Projekt in Beirut, ist ein gutes Beispiel dafür. Seine Absicht ist unpolitisch, aber es erfährt viel Aufmerksamkeit, weil es sich an einem öffentlichen Ort, im öffentlichen Raum mit so vielen starken Konnotationen und Emotionen befindet. Ich glaube, jeder, der sich mit der Erschaffung von Räumen beschäftigt, möchte so wenig Beteiligung von Politik und Behörden wie nur möglich. Je mehr man die Möglichkeit hat, einen Freiraum innerhalb des öffentlichen Raums zu erschaffen, desto intensiver versucht man, sich der politischen Kontrolle dieses Raums zu widersetzen.

AG: Erzählen Sie mir mehr über The Gesture. Als ich die Explosion in Beirut sah, dachte ich ‚Was für eine Katastrophe!’ und eine halbe Sekunde später waren meine Gedanken bei Ihnen, dass Sie eine monumentale Erinnerung schaffen würden und der Phönix von Beirut aus der Asche aufsteigen würde. Das ist sehr bewegend.

NK: The Gesture hat viel Geschrei verursacht. Die Leute schrien mich an, die Skulptur schrie mich an, aber eigentlich haben die Stadt, die Bürger und die Skulptur alle in dieselbe Richtung geschrien. Ihr wollt die Wahrheit – ich will die Wahrheit! Ihr wollt Gerechtigkeit – ich will sie auch! Ich habe dieses Werk geschaffen, weil ich Antworten will. Warum also schreien wir? Allein dadurch, dass ich ein Kunstwerk erschuf und es in einem spannungsgeladenen urbanen Kontext platzierte, initiierte ich eine Debatte, eine enorme Energie, die einem aufgezeigt hat, worum es in der Stadt geht. The Gesture ist ein Beispiel für eine Skulptur, die die Stadt widerspiegelt und widerhallt; sie bringt an die Oberfläche, worüber die Stadt lange Zeit geschwiegen hat. Ich bin ich froh, dass die Debatte im Libanon durch Kultur und Kunst ausgelöst werden konnte. Kritik auf diese Art und Weise zu erhalten ist ein gesunder Prozess.

 

„Hannibal on an Elephant“ aus der Serie „Cultural Warriors“ von 2013, Foto: Nadim Karam Studio

 

AG: Das bringt uns zurück zu der Rolle des öffentlichen Raums und was er heute bedeutet.

NK: Er bietet die Möglichkeit zur Debatte, zu diskutieren, zu verändern, zu erschaffen und eine Stadt neu zu denken. Mir gefällt das Konzept von „wieder“- im Englischen würde man die Vorsilbe „re-“ verwenden – neu bewerten, neu herausfordern – re-evaluate, re-challenge – all die Dinge, über die man vielleicht schon Annahmen gemacht hat, über die man sich schon eine Meinung gebildet hat, die kann man auch anders sehen, wenn man nur einen anderen Blick darauf wirft.

Indem wir neue Energie im öffentlichen Raum und neue Formen der Identität erzeugen, schaffen wir es, den Stadtbewohner dazu zu bringen, die Stadt neu zu hinterfragen. Das ist wichtig: Wenn dieses Hinterfragen, dieser neue Blick auf die Stadt nicht stattfindet, ist, so glaube ich, ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum nicht erfolgreich. Ein Kunstwerk muss dazu anregen, den Ort zu hinterfragen, bis er wieder zur neuen Normalität wird. Wenn der öffentliche Raum es geschafft hat, die Stadt in Aufruhr zu versetzen und eine neue Norm zu schaffen, sind wir bereit für den nächsten Raum. In gewisser Weise bildet diese Art der Rebellion die Schichten der Identität eines Ortes.

AG: Der öffentliche Raum heute wird dominiert von Beschilderungen, die die Funktion des öffentlichen Raums ad absurdum führen. Man wird aufgefordert, den Schildern folgen und das zu tun, was einem gesagt wird. Der öffentliche Raum wird manipuliert, mit Kommerz und Markenidentität, mit Kameras, die jedes Gesicht und jede Bewegung scannen – Tag und Nacht. Das Programm ist buchstäblich auf den Boden gemalt.

NK: Ja, natürlich. Das kann erdrückend werden – wenn wir es zulassen. Vor kurzem haben mir die Behörden des Londoner Stadtbezirks Chelsea Pläne eines urbanen Raumes geschickt, bei dem jeder Zentimeter komplett vorgeplant war. Als Reaktion darauf habe ich versucht, das Gegenteil zu tun, indem ich dort die Pflanzung von Wildblumen vorgesehen habe. Ich habe mich quasi den strengen Vorgaben und Abmessungen durch chaotische Blumenanpflanzungen in verschiedenen Farben und Formen widersetzt.

Gerade arbeite ich auch an einem Projekt namens „The Cultural Warriors“, einer Serie von Skulpturen, die die Kraft von Kultur in Städten thematisiert und dafür kämpft. Die Skulpturen bilden jeweils eine Gruppe zweier Figuren, eine über der anderen positioniert, wie zum Beispiel ein Nashorn mit einer Diva obenauf. Es könnten Hunderte von ihnen sein, die mit ihren Träumen und ihrer Poesie den Ort einnehmen. Das könnte Reibung erzeugen, aber die Idee ist einfach, den Status quo in Frage zu stellen. Wenn eine Blume über die ihr gesetzten Grenzen hinauswächst, können wir akzeptieren, weil es eine Blume ist, aber das gilt nicht nicht für ein Gebäude. Wenn man Poesie hinzufügt, dann widersetzt man sich den Strukturen und Regeln, die einem Ort bereits auferlegt wurden.

AG: Wie die Blumen und die Cultural Warriors sind viele Ihrer Projekte Teil einer Serie von mehr als einem Objekt. Für mich heben sie sich dadurch von den „traditionellen“ Skulpturen ab und verwischen die Grenzen mit der städtischen Infrastruktur und der Gestaltung des Städtischen. Sie beginnen, ein Eigenleben zu entwickeln.

NK: Eine Serie von Skulpturen in Form von menschenähnlichen Wesen, Tieren und Pflanzen demonstriert die Vielfalt des Lebens. Die buchstäbliche Vielfalt, aber auch unterschiedliche Denkprozesse. Aus Skulptur-Gruppen, Clustern kann eine Stadt entstehen. Das Element der Überraschung ist ebenfalls wichtig und gibt der Phantasie eine andere Dimension. Stellen Sie sich zum Beispiel eine lineare Abfolge von Elementen einer Skulptur vor. Dann biegt man plötzlich in eine andere Straße ein und findet eines der Elemente dort an einem Gebäude hängen.

Wenn Sie ein Element sehen, das nicht an seinem Platz ist, bedeutet das, dass es noch mehr geben könnte? Man beginnt in der Stadt zu suchen und sich Fragen zu stellen. Zugleich wird es zu einem Spiel, das einen dazu bringt, die eigene Stadt zu hinterfragen. Die Langeweile auf dem Weg zur Arbeit und zurück, jeden Tag derselbe Weg, alles wird plötzlich unterbrochen und man fragt sich einen Moment lang: „Was passiert hier?“.

 

„The Travellers“ von 2006 in Melbourne, Foto: Karim Nadam Studio

 

AG: Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie in Ihrer Arbeit häufig ein so genanntes Vokabular von Formen verwenden. Fantastische Kreationen, Ikonen, die ein Alphabet bilden. Dieses Alphabet schafft eine neue universelle Sprache.

NK: Die Formen können von allen Menschen verstanden werden, unabhängig von Alter, Sprache oder Kultur. Sie kommunizieren mit allen, und ich denke, ihre Vielfalt ist für die Menschen wichtig. Verschiedene Formen können von Menschen in verschiedenen Städten unterschiedlich interpretiert werden. Manchmal gehe ich an meinen Skulpturen vorbei, um zu hören, was die Leute über sie sagen. Es kommt vor, dass eine Wildkatze mit drei Ohren zu einem Esel wird, oder ein Hund ein Krokodil. Diese Sichtweisen ändern sich je nach Vorstellung und Kultur des Menschen, aber sie sind auch Archetypen, die den Begriff der Vielfalt in die Städte bringen.

AG: Was sagen uns die Formen der Skulpturen? Welche Geschichte oder Erzählung erzählt das Alphabet behauptet?

NK: Die Formen fordern uns auf, uns zu öffnen – vor allem über die Grenzen des Kontextes hinaus, in dem wir leben. Feiere Vielfalt und akzeptiere den und die andere, der oder die anders ist. So können wir miteinander in Beziehung treten. In der Natur verlieren wir täglich einen Teil unserer kostbaren Artenvielfalt durch den Verlust von Lebensraum. Die Vielfalt ist es, die uns und unsere Umwelt lebendig und pulsierend macht.

Auch Bewegung und Zeithaftigkeit sind wichtig. Ich versuche, meine Werke flexibel zu gestalten, kinetisch oder ephemer, wo ich nur kann. In Melbourne geben riesige neun Meter hohe Skulpturen auf einer Brücke über den Fluss den Menschen Gestalt, die in die Stadt eingewandert sind und erzählen ihre Geschichte. In Nara, also in Japan, habe ich kleine Skulpturen aufgestellt, nur 45 Zentimeter hoch. Aber es waren tatsächlich tausende dort im See vor dem ältesten buddhistischen Holztempel der Welt. Ihr Maßstab, ihre Bedeutung und ihre Form ändern sich also kontextabhängig.

 

„The Travellers“ von 2006 in Melbourne, Foto: Karim Nadam Studio

 

AG: Für mich sind die Skulpturen Teil einer Strategie zur Vermenschlichung der Stadt. Sie bringen ein Lächeln, eine menschliche Note in die wilde Infrastruktur, ein Lächeln in die Bürokratie und die kommerzielle Dominanz der Städte.

NK: Sie fügen der Stadt einen menschlichen Aspekt hinzu, aber sie sind nicht als Teil einer Strategie gedacht. Es ist unschuldiger als das. Der Ansatz ist eher poetisch als strategisch.

AG: Dennoch sind einige von ihnen für mich sehr aufrührerisch, wie die Bewegungen der Hippies, der Konstruktivisten und der Futuristen. Sie passen zu der starken Energie dieser Bewegungen.

NK: Die Skulpturen haben etwas Karikaturistisches. Wenn man eine Karikatur zeichnet, dann tut man das, um zu kommentieren oder zu kritisieren. Und die Skulpturen sind auch ein bisschen so. Wenn man eine Serie von zehn Skulpturen von neun Metern Höhe, das entspricht drei Stockwerken eines Gebäudes, kreiert und man stellt sie auf eine Brücke, schafft man etwas, das fast eine Stadt in sich selbst ist. Diese ‘Straße’ von Figuren, jede mit mit ihrer eigenen Form, erzählt den Bewohnern eine Geschichte.

AG: Das Werk kann also nicht ohne Kontext existieren.

NK: Ja, für mich geht es nicht darum, ein Werk zu konzipieren und dann zu sehen, wo es platziert werden kann – was auch möglich ist und sehr kraftvoll sein kann. Ich ziehe es vor, die Stadt kennenzulernen und mit ihr ins Gespräch zu kommen und etwas aus unserem Dialog zu erschaffen.

Die Grenzen zwischen Landschaftsarchitektur und Kunst sind teilweise fließend. Im Curated-Heft der G+L erforscht das Berliner Büro Topotek 1 gemeinsam mit der Kuratorin Barbara Steiner des Verhältnis der beiden Disziplinen.

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