Dieser gesellschaftlichen Melange haben der österreichische Architekt Martin Feiersinger und sein Bruder Werner, ein Künstler und Fotograf, eine Ausstellung und ein Buch gewidmet. Der Band beansprucht nicht, des Rätsels Lösung zu finden, sondern will einen Einblick in diese spannende Szene geben. Mit 216 ausgewählten Projekten haben die Brüder Feiersinger ein Dokument ihrer persönlichen Leidenschaft geschaffen, das als Architekturführer, Logbuch oder Atlas gelesen werden kann. Was das Buch besonders wertvoll macht, ist das Zusammenspiel zwischen dem architektonischen Wissen von Martin Feiersinger, der künstlerische Sicht von Werner Feiersinger und den themaübergreifenden Reflexionen von Otto Kapfinger, der im Buch eingestreute Essays verfasst hat.
Wir befragten Martin Feiersinger zur Ausstellung und zum Buch „Italo Modern“:
Baumeister: Woher kommt Ihr Interesse an der italienischen Moderne?
Martin Feiersinger: Das geht zurück auf meine Studienzeit in Wien Anfang der 1980er Jahre. Zuerst waren es aktuelle italienische Projekte die ich studierte und besuchte wie etwa den Friedhof von Aldo Rossi in Modena (1971-83) oder die Bank von Carlo Scarpa in Verona (1973-82) – zwei ganz unterschiedliche Projekte, die bei mir einen starken Eindruck hinterließen: die typologische Auseinandersetzung bei Rossi, der sich aber kaum um die Qualität der Ausführung kümmerte und dem gegenüber die Detailbesessenheit und handwerkliche Präzision bei Scarpa.
Das besondere Interesse an der nahen Vergangenheit in Italien wurde dann 1984 durch einen Vortrag von Gino Valle in Wien ausgelöst, bei dem er unter vielen anderen Projekten auch seine Casa Rossa (1965-66), ein kleines rotes Haus in Udine, gezeigt hat. Ich verstand dieses fast normale Haus damals als Musterbeispiel für Robert Venturis Manifest „Komplexität und Widerspruch“. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte ich aber auch das maschinenhafte Gebilde von Cappai & Mainardis, das wie eine riesige Schreibmaschine an die Altstadt von Ivrea andockt und 1967-75 im Auftrag des Büromaschinenherstellers Olivetti geplant wurde.
B: Was hat, Ihrer Meinung nach, diese besonders kreative Phase der italienischen Architektur Mitte der Siebziger Jahre abgeschlossen?
M F: Die Postmoderne! Mein Bruder und ich haben in unserer Bestandsaufnahmeist ein Prozess, bei dem der Zustand eines vorhandenen Gebäudes oder einer vorhandenen Struktur dokumentiert wird. Dies kann zur Planung von Renovierungs- oder Sanierungsmaßnahmen oder zur Beurteilung des Wertes einer Immobilie dienen. diese Frage in beide Richtungen gestellt: Wo beginnen wir und wo hören wir auf? So sind wir letztlich bei Werken angelangt, die kurz nach Kriegsende die kleinste Wohneinheit thematisierten – bei der Casa Minima in Bergamo von Giuseppe Pizzigoni und bei den Kugelhäusern in Mailand von Mario Cavallè, beide von 1946. Das Ende markieren zwei ungewöhnliche Wohnquartiere, die 1976 entworfen wurden – eine Art Plattenbau in Udine von Gino Valle und eine schwebende Teppichbebauung in Spotorno von Gambirasio & Zenoni.
B: Viele der dokumentierten Werke sind heute im schlechten Bauzustandbeschreibt den aktuellen Zustand eines Gebäudes. Hierbei werden Faktoren wie der Zustand der Gebäudetechnik, des Dachs, des Mauerwerks und der Fassade betrachtet., der eine gewisse Nostalgie in den Bildern erzeugt. Liegt das nur an der wirtschaftlichen Krise oder glauben Sie, dass die Italiener sich der Qualität ihrer Nachkriegszeitarchitektur noch nicht völlig bewusst sind?
M F: Ausgerechnet eine der Ikonen des internationalen Brutalismusist eine Architekturströmung, die in den 1950er Jahren in England entstanden ist. Dabei werden oft rohe, unverputzte Betonflächen verwendet, die dem Bauwerk eine grobe und kraftvolle Erscheinung verleihen. Brutalismus wurde oft verwendet, um sozial- oder öffentliche Bauten wie Schulen, Wohnblocks oder Bibliotheken zu gestalten. Der Begriff Brutalismus geht zurück auf…, das Istituto Marchiondi in Mailand von Vittoriano Viganò, ist in einem desolaten Zustand! Der Grund dafür liegt aber nicht in der wirtschaftlichen Krise, sondern vor allem in der starren Konzeption, die keine Nutzungsänderungen erlaubt. Ähnlich verhält es sich auch mit vielen großen Kinderkolonien an der Adria oder auch jener in Corte di Cadore, die Edoardo Gellner 1954-63 geplant hatte und die seit Jahren leer steht.
Bei unseren Aufnahmen waren wir aber eigentlich überrascht, wie viele Bauten sich in einem perfekten Zustand befanden. Die Akzeptanz und Wertschätzung der Bauten aus der Nachkriegszeit ist leider generell nicht sehr hoch, da könnte ich auch keinen großen Unterschied zwischen Österreich und Italien erkennen.
B: In den im Buch eingeschobenen Essays von Otto Kapfinger tauchen ständig Hinweise auf andere Künstler und Autoren auf – vor allem Pasolini, Sottsass, Calvino, De Sica, Rossi und Loos. Ist dieses gesellschaftlich vernetzte und anregende Umfeld in den dokumentierten Werken zu spüren?
M F: Die Werke spiegeln die verschiedensten Strömungen und Einflüsse wider, sei es aus Literatur, Film oder bildender Kunst und zeigen auch einen neuen Umgang mit der Architekturgeschichte: So zeugt zum Beispiel Aldo Rossis Erstlingsbau – ein Ferienhaus in Marina di Massa von 1960 – vom direkten Einfluss von Adolf Loos, mit dessen Werk er sich in jenen Jahren intensiv auseinandergesetzt hatte. Auch der Neorealismus, der im Film eine besondere Ausprägung erfuhr, hatte einen Einfluss auf eine Reihe von Architekten, etwa Mario Ridolfi, für den besonders die solide handwerkliche Ausführung eine wichtige Rolle spielte. Daneben gibt es auch viele Architekten, die sich nicht eindeutig einer Bewegung zuordnen lassen wie Gino Valle – der interessanterweise das Grabmal von Pier Paolo Pasolini in Casarsa entworfen hat. Ettore Sottsass wiederum spiegelte als internationaler Designguru das Lebensgefühl gleich mehrerer Jahrzehnte wider – wir zeigen im Buch aber seine kaum bekannten Anfänge als Architekt: ein Wohnhaus in Pont-Saint-Martin von 1954-55 und eine Schule in Predazzo, die er 1951-52 zusammen mit seinem Vater geplant hat.
B: Wie beurteilen Sie den derzeitigen Stand der italienischen Architektur?
M F: Die Vielseitigkeit, Unbeschwertheit, Originalität, Experimentierfreudigkeit und vor allem GleichzeitigkeitGleichzeitigkeit: Die Gleichzeitigkeit bezeichnet die gleichzeitige Nutzung von Ressourcen oder Anlagen. In der Gebäudetechnik beeinflusst sie zum Beispiel den Stromverbrauch, wenn mehrere Geräte gleichzeitig betrieben werden. vieler verschiedener Strömungen wie in den Boom-Jahren kann ich in der gegenwärtigen Architekturszene nicht erkennen. Einerseits vielleicht weil mein Auge auf die Nachkriegsentwicklungen fokussiert ist, andererseits weil mir dazu auch die nötige Distanz fehlt, da ich selbst ein planender Architekt und kein Kritiker bin.
Die italienische Architektur der 50er bis 70er Jahre hingegen ist, metaphorisch gesprochen, so etwas wie ein offenes Buch mit unzähligen Kapiteln, wo man aus dem Vollen schöpfen und viel lernen kann.
Die Ausstellung „Italo Modern 2“ ist bis 20. Februar im Aut – Architektur und Tirol in Innsbruck zu sehen. www.aut.cc
Dazu ist das zweite Band der Publikation „Italo Modern 2 – Architektur in Oberitalien 1946-1976“ erschienen. Von Martin und Werner Feiersinger, hrsg. von Arno Ritter, aut. architektur und tirol in Zusammenarbeit mit dem vai Vorarlberger Architektur Institut, Park Books, Zürich Oktober 2015. Das erste Band „Italo Modern 1“ würde 2011 als „Schönstes Buch Österreichs“ gekürt.