Diese Kriterien unterstützen die Befangenheit gegenüber den Gebieten, die der negativ konnotierte Begriff „Ghetto“ mit sich bringt. Einst wurden Juden in den als Ghetto bezeichneten Vierteln von den restlichen Einwohnern getrennt und eingesperrt. Diese Wortherkunft mag erschreckenderweise nicht mehr in unseren Köpfen präsent sein, doch die neuen Assoziationen von Armut, Gewalt, Isolierung und Immigranten sind spätestens seit Elvis Presleys sozialkritischem Ohrwurm verankert. Haben die Einwohner der dänischen Ghettos nicht die gleichen Assoziationen? Werden sie dadurch nicht demotiviert und automatisch zu einem Abbild dieser Assoziationen? Und vor allem: Ist ihre heutige Lage nicht wortgetreu und fremdverschuldet aufgrund ihrer lokalen Lage hervorgebracht? Die meisten als Ghetto deklarierten Gebiete sind durch eine infrastrukturelle Benachteiligung entstanden. So zum Beispiel auch das Ghetto Tingbjerg.
Das in Kopenhagen gelegene Tingbjerg wurde in den 1950ern vom bekannten Architekten und Stadtplaner Steen Eiler Rasmussen entworfen und in den 70ern fertiggestellt. Der Plan: ein moderner, warmer Vorort im Grünen mit gelben Ziegelsteinhäuschen für Familien mit traditionellem Modell und mittlerem Einkommen. Die Realität: Arbeiterfamilien und Arbeitsmigranten, fehlendes Leben im öffentlichen Raum, keine gepflegten Vorstadtgärten, sinkende Mieten. Die Tatsache, dass es keinerlei Verkehrsanbindung zur Innenstadt oder gar Durchgangsstraßen zu Nachbarorten gab, führte letztlich zu einer geschlossenen Gesellschaft innerhalb Tingbjergs.
Da es das langfristige Ziel der Ghetto-Liste ist, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgrenzung von Gebieten wie Tingbjerg zu verringern und die Lebensqualität zu steigern, erfreut es, wenn ein Wohngebiet nicht mehr auf der Liste steht. Dies bedeutet jedoch lediglich, dass erste Schritte in die richtige Richtung erfolgreich bzw. wirkend getan wurden. Denn die Betitelung „Ghetto“ soll hier im dänischen Fall für Probleme sensibilisieren und dabei helfen, Maßnahmen umzusetzen. Entsprechend besteht die Gefahr, dass diese Vorzüge durch die fehlende Nennung auf der Liste entschwinden. Leider besteht aber auch eine Gefahr, dass Maßnahmen, wie der Abriss von Wohnungen, vorsorglich bestehen bleiben.
Wendepunkt: Tingbjergs Kulturhaus von COBE
Tingbjerg steht 2020 immer noch auf der Liste und erfüllt mit seinen 6290 Einwohnern, 73 Prozent davon nicht-westlicher Abstammung, drei von vier Kriterien. Aber es tut sich was: Ein Kulturhaus inklusive Bibliothek ist seit 2018 nach dem Entwurf des dänischen Architekturbüros COBE fertiggestellt. Trotz aller Ghetto-Eigenschaften gelten die Siedlungshäuser von Rasmussen als Eckpfeiler der modernen Architektur Dänemarks mit nationaler Bedeutung. Aus diesem Grund greifen Material und Architektursprache – neu interpretiert – die umstehenden Hausreihen auf. Damit fügt sich das Kulturhaus nicht nur harmonisch in das Viertel ein, sondern auch an eine bestehende Schule an.