05.06.2015

Portrait

Winfried Nerdinger

© Orla Connolly

Im Baumeister 6/2015 stellen wir das Münchner NS-Dokumentationszentrum vor. Der Gründungsdirektor Winfried Nerdinger sagt, es sei die schwierigste Aufgabe gewesen, die er in seiner Laufbahn gestemmt hat. Christina Haberlik spricht mit ihm über das Konzept.

 

Baumeister: Wie wird das Dokumentationszentrum seit der Öffnung angenommen – geht Ihr Konzept auf?
Winfried Nerdinger: Die hohen Besucherzahlen belegen, dass das Dokumentationszentrum auf ein ganz großes Interesse stößt. Und ich werde immer wieder von Besuchern angesprochen, die sich begeistert, oft auch ergriffen, über die Dokumentation äußern.

B: Warum hat München so lange gebraucht, sich seiner Vergangenheit zu stellen?
WN: Ganz Deutschland hat sehr lange gebraucht, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen, weil die Generation, die durch den Zweiten Weltkrieg gegangen ist und dann die Bundesrepublik aufbaute, mit dem Regime verstrickt gewesen war. In München hat es allerdings noch einmal länger gedauert. Dies erklärt sich daraus, dass München mehr als jede andere Stadt mit dem Nationalsozialismus verbunden war, denn hier ist ja alles entstanden. Die NSDAP und Hitler wurden in München mit der Unterstützung von Teilen des Bürgertums, der Verwaltung, des Militärs und der Publizistik großgezogen. Die Aufarbeitung ist dann natürlich noch mal schwieriger.

B: Wodurch unterscheidet sich dieses Dokumentationszentrum von anderen?
WN: Wir haben einen ganz spezifischen Ansatz, den es sonst nirgendwo gibt: Wir richten den Fokus auf eine Stadt, auf München. Warum ist der Nationalsozialismus hier entstanden, wie hat sich die Gesellschaft verändert, wie verlief die Ausgrenzung und wie hat sich München nach dem Krieg mit diesen Entwicklungen auseinandergesetzt. Auch der Ort an dem wir uns befinden, ist etwas Besonderes, denn hier stand das „Braune Haus“, die erste repräsentative Parteizentrale der NSDAP. Dieser Ort sowie die uns umgebenden authentischen Orte der NS-Zeit sind in die Ausstellung einbezogen.

B: Es ist erstaunlich, was man alles nicht wusste, selbst wenn man in München lebt. Das Vorhaben wirkt allerdings ein wenig wie eine Ablasshandel…
WN: Ablasshandel würde ich nicht sagen. Das NS-Dokumentationszentrum ist zuerst einmal ein ganz deutliches Zeichen, dass sich die Stadt München ihrer Geschichte stellt. Der Bau ist auch architektonisch als Störfaktor in seiner Umgebung zu verstehen, ein Ort des Anstoßes, der Diskussion, wo man sich mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen auseinandersetzen kann. Die Zusammenhänge und Hintergründe dokumentieren wir streng wissenschaftlich und historisch korrekt. Und der Anteil Münchens an der Entstehung und am Aufstieg der NSDAP, der ist nun einmal nicht kleinzureden.

B: Wie gehen Sie mit dieser Fülle von Material um?
WN: Eine Ausstellung ist zuerst einmal ein optisches Ereignis. Wir teilen den riesigen Stoff in 33 Themenbereiche, die mit packenden und sprechenden Leitbildern vermittelt werden sollen. Die Besucher werden sofort ergriffen, und es werden Emotionen geweckt, dann werden die Strukturen und Zusammenhänge rational mit kurzen Texten vermittelt. Im Zusammenwirken von Bild und Text sollen Information, Dokumentation und Aufklärung erfolgen. Aus diesem Grund zeigen wir auch keine Objekte aus der NS-Zeit. Eine SS-Uniform oder Ehrendolche müssten wir unter Glashauben museal sichern und würden sie damit zu isolierten, ästhetisierten Objekten und letztlich auch zu Devotionalien machen. Genau das wollen wir nicht. Zudem zeigen wir Wechselausstellungen, mit denen einzelne Themenbereiche nochmals vertieft werden können. Wir werden beispielsweise eine Ausstellung über Euthanasie oder über den NSU-Prozess machen.

 

B: Versuchen Sie, auch eine Parallele zu den aktuellen Ausgrenzungen der Flüchtlinge zu ziehen?
WN: Der Bezug zur Gegenwart ist ein wichtiges Thema unserer Dauerausstellung, denn wir behandeln ja auch das Nachleben von NS-Gedankengut bis heute. Dieses Nachleben umfasst nicht nur Rechtsextremismus und Antisemitismus, sondern Ausgrenzung, Extremismus und Fremdenfeindlichkeit in den verschiedensten Formen. Am Ende der Ausstellung befindet sich ein sogenannter Newsticker – zwei große Bildschirme –, der täglich mit Nachrichten zu dieser Thematik bestückt wird. Und das ist erschreckend viel, was leider hier in Deutschland diesbezüglich passiert. Vieles davon bekommt man gar nicht mit, da es sich um regionale Ereignisse handelt, über die nicht überregional berichtet wird. Wenn man dies hier so gebündelt erfährt, ist das schockierend, und es soll ja auch entsprechend aufrütteln.

B: Wir haben ja das Problem, dass wir immer noch mit rechter Gesinnung und rechtsradikalen Auswüchsen in unserer Gesellschaft zu tun haben. Liegt es daran, dass die Aufarbeitung des NS-Regimes so spät begonnen hat?
WN: Ich glaube, das Problem ist komplexer. Aus statistischen Untersuchungen kann man sehen, dass ein gewisser Prozentsatz der deutschen Bevölkerung seit Jahrzehnten antisemitisches Gedankengut vertritt. Dieser Prozentsatz schwankt je nach politischem und ökonomischem Hintergrund; aber Antisemitismus ist sowohl latent wie auch offen vorhanden. Abhilfe dagegen kann man mit Sicherheit nicht nur mit einem Dokumentationszentrum bewirken, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Aufklärung beginnt im Elternhaus, sie muss insbesondere in der Schule erfolgen und über die Medien weiter gefördert werden. Dieser große, gesamtgesellschaftliche Aufklärungsprozess bedarf täglicher Anstrengung von uns allen.

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