12.06.2014

Öffentlich

WM als Wendepunkt

Eine seltsame Stimmung herrscht in der westlichen Welt, zumindest in ihrem medial vermittelten Teil: Eine Fußball-WM beginnt, und nirgendwo kommt so recht Euphorie auf. Viel ist die Rede davon, dass die Brasilianer die Weltmeisterschaft gar nicht wollten, die neu gebauten Stadien für Verschwendung hielten und sich im übrigen doch besser um ihre sozialen Probleme kümmern sollten. Noch massiver geht es der Fifa an den Kragen. Die Selbstherrlichkeit einer Sepp Blatter und die seltsame Vergabe der übernächsten WM nach Katar werfen Fragen auf.

Die Hauptfrage, die ich mir stelle, ist die: Gerät momentan tatsächlich die globalisierte Eventkultur als solche an ihr Ende? Findet hier ein so weit gehendes Umdenken statt, dass die Mega-Veranstaltungen als weltweite, medial aufgeheizte und kommerziell ausgeschlachtete Emotionskulminationen ausgedient haben? Als Indiz für die These werden gern die Demonstrationen in Brasilien herbei gezogen.

Und genau hier liegt aus meiner Sicht ein Denkfehler. Es stimmt, in Brasilien hagelt es Proteste. Ich selbst habe es kürzlich erlebt, in der Hauptstadt Brasilia (und dabei auch gesehen, dass die extrem weitläufige Stadtplanung der 1960 „eingeweihten“ Planstadt sich für genau solche Demonstrationen extrem gut eignet). Aber warum gibt es denn die Proteste gerade jetzt? Weil die Menschen in den Favelas oder die Ureinwohner des Landes die mediale Aufmerksamkeit nutzen, welche die Weltmeisterschaft generiert. Ohne World Cup keine Fernsehteams aus aller Herren Länder in den Städten des Landes. Und ohne die keine weltweite Aufmerksamkeit.

Also: Die Proteste signalisieren kein Ende der Eventkultur. Sie weisen aber dennoch auf eine Veränderung hin: Die Wahrnehmung eines Weltmeisterschaft als sorgenfreies, kollektive Glückseligkeit verbreitendes PR-Happening ist nicht mehr realistisch. Eine WM fungiert heute als Kulminationspunkt für soziale Missstände, nicht als deren temporäre Neutralisierung. Und das ist doch hervorragend. In der WM spiegelt sich die globale kapitalistische Kultur in all ihren Extremen und mit all ihren Verwerfungen. Die WM schafft eine gesteigerte Sensibilität für soziale Spaltungen, die in Ländern wie Brasilien herrschen. Sie ist damit das Abbild unserer Welt in all ihren Krassheiten – und mit all ihren medialen Hysterisierungsprozessen, wie Sloterdijk wohl sagen würde.

Das werden hoffentlich auch Russland und Katar zu spüren bekommen. Jegliche Shitstorms sind den dortigen menschenfeindlichen bzw. nationalistischen Regimes zu wünschen. Deren Wunsch, die vier Wochen Kickerei zur keimfreien Selbstinszenierung zu nutzen, werden hoffentlich von kreativen Proteststrategien tausendfach unterminiert. Das Resultat wären dann keine spannungsfreien Weltmeisterschaften – sondern sozial extrem produktive.

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