06.11.2018

Gewerbe

Von der Mauer zum Pfeiler und zurück

Foto: Moritz Bernoully.

Es lässt sich ohne weiteres behaupten, dass, seit Le Corbusier 1914 das Konstrukti- onssystem „Maison Dom-ino“ entwickelt hat, kein anderes konstruktives Konzept einen vergleichbaren Einfluss auf unser räumlich-architektonisches Denken hatte. Mit der Umsetzung dieses neuen Konstruktionssystems hat Le Corbusier nicht nur der Mauer als traditionellem Tragelement ein Ende gesetzt, sondern die Architketur auch von einem engen Korsett befreit. So lösten sich der architektonische Raum und die Fassade von ihrer fast symbiotischen Beziehung zum Tragwerk. Das erste Konzept freier Grundrissgestaltung in der Moderne entstand.

Foto: Moritz Bernoully.
Foto: Alfonso Merchand.
Foto: Moritz Bernoully.

Comeback der tragenden Wand

Auch ein Jahrhundert später hat dieses System, basierend auf Pfeiler beziehungsweise Pilotis und Fundamentplatte, seine Gültigkeit nicht verloren. Wirft man einen Blick auf die Bauten in der Peripherie von Mexiko-Stadt und anderen Metropolen Lateinamerikas, wird der Einfluss dieser Konstruktionsmethode auf das Architekturverständnis evident. Aber: Trotz der Beliebtheit von Pfeiler und Betonplatte feiert ein anderes Prinzip seit einigen Jahren ein bemerkenswertes Comeback – die tragende Wand. Im zeitgenössischen Mexiko lässt sich die tragende Wand in verschiedenen Projekten finden: etwa in denen von Mauricio Rocha und Gabriela Carrillo, aber auch bei Alberto Kalach. Allerdings wendet sie keiner dieser Architekten mit der Konsequenz an wie es Benjamín Ro- mano mit seinem Büro „LBR & A“ tut.

Romano hat einen großen Teil seiner Arbeit dem Studium und der Umsetzung von Tragwerken gewidmet, bei denen die Wand und nicht der Pfeiler die zentrale Rolle spielt. Das aktuellste und wichtigste Resultat dieser Auseinandersetzung ist der „Torre Reforma“ im Zentrum von Mexiko- Stadt. Er trägt den Namen der Allee, an der er steht, des „Paseo de la Reforma“, der aus geografischen und historischen Gründen wohl wichtigsten Achse der Stadt.

Foto: Moritz Bernoully.
Foto: Alfonso Merchand.
Foto: Moritz Bernoully.

246 Meter Betonwand

Sowohl von außen als auch von innen gehört der Torre Reforma zu den unkonventionelleren Hochhaustürmen unserer Tage, nicht nur in Mexiko-Stadt. Seine Einzigartigkeit liegt in jenem Element, welches zugleich das Erscheinungsbild prägt und das Gebäude maßgeblich stützt: den zwei tragenden Betonwänden von jeweils 246 Metern Höhe. Beide Wände, die zwei der drei Seiten des Gebäudes bilden, treffen an der hinteren Ecke des Grundstücks auf einander und bilden so ein Tragwerk, das sich wie ein offenes Buch dem Paseo de la Reforma zuwendet. Die beiden monumentalen, 57 Stockwerke hohen Flächen stellen demnach nicht nur die Fassade des Gebäudes dar, sondern tragen es auch. Dazu reichen sie noch weit über die neun Untergeschosse hinaus in die Tiefe als Fundament. Dies macht das Bauwerk zu einem der seltenen Projekte, bei denen Hülle, Tragwerk und Fundament aus ein- und demselben Element bestehen.

Gestalten mit Tetris

Mit bloßem Auge ist das Ausmaß der Betonwände und damit auch des gesamten Gebäudes nur schwer zu erfassen. Beeindruckt ist man dennoch. Die schiere Dimension der Wände erzeugt eine geradezu befremdliche Monumentalität, ein Effekt, der durch die vielen Öffnungen in der Oberfläche zusätzlich unterstützt wird. Diese Perforation erinnert ästhetisch an das legendäre 1980er-Jahre-Computerspiel „Tetris“. Sie ist durch eine parametrische Entwurfssoftware entstanden, mit der unter anderem Aspekte wie Erdbebenkoeffizient und Materialwiderstände berücksichtigt werden konnten.

Die Perforation aus Fenstern markiert nicht nur die einzelnen Stockwerke, sondern bündelt Einheiten von je vier Geschossen, die wie jeweils 14 einzelne kleine Gebäude innerhalb des Turms organisiert sind. Diese Fenster wirken außerdem im Falle von Erdbeben, Stürmen oder sonstigen Naturgewalten einem Drehen und Zusammenbrechen des Gebäudes entgegen. Auffällig sind auch die prägnanten horizontalen Linien auf der Betonfassade. Ihre Komposition hat das Ziel, ein gleichmäßiges Bild des Betons zu erzeugen. Die Linien resultieren aus dem geradezu ritualisierten Prozess des täglichen monolithischen Betongießens von je 70 Zentimeter Höhe. Diese Regelmäßigkeit ermöglicht innerhalb einer Woche den Bau eines vollständigen Stockwerks – und resultierte so innerhalb von 57 Wochen im Abschluss der gesamten Turmhöhe. Abgesehen von der Geschwindigkeit und Effizienz bildet dieser Gussverlauf im Beton sich verändernde Materialfarben ab und erzeugt eine prägnante Oberfläche.

Ästhetik des Reißverschlusses

Die dritte Fassadenseite des Gebäudes weist zum „Bosque de Chapultepec“, dem größten Stadtpark der westlichen Hemisphäre. Die Fassadengestaltung basiert auf einer einfachen statischen Funktion: Die Spannkabel „nähen“ die beiden Tragwände buchstäblich zusammen und stützen dabei die einzelnen Stockwerke ab, die von den beiden tragenden Wänden abhängt werden. Diese Ästhetik erinnert an einen Reißverschluss.

Die Außenflächen des Torre Reforma haben mit ihren massiven Betonwänden, der doppelten Funktion der Fassadenperforationen, dem Konstruktionsprinzip der Tragwände und der metallenen Struktur der Spannkabel eine enorme Anziehungskraft. Ihre Wirkmacht auf das Stadtbild und die Silhouette von Mexiko-Stadt ist beträchtlich, gerade auch durch die zentrale Lage des Turms und seine Interaktion mit seinem ungleichen Hochhaus-Nachbarn, dem „Torre Mayor“. Dennoch ist es warhscheinlich das Innere des Gebäudes, welches die höchste Faszination ausübt.

Freie Raumgestaltung

Durch das Fehlen eines Tragsystems aus Pfeilern und Platten entstehen Stockwerke, die völlig frei gestaltet werden können. Dies ist nicht untypisch für Romanos Praxis. Wenn ihn eines charakterisiert, dann seine Beschäftigung mit der Flexibilität und der maximalen Auslastung von Innenräumen. Für den Torre Reforma, in dem sich hauptsächlich Büroräume befinden, ist dieser Ansatz geradezu grundlegend, da er einen maximalen ökonomischen Nutzen des verfügbaren Raums ermöglicht. Um Romanos architektonisches Denken zu erfassen, hilft ein Blick auf die wichtigen Etappen seiner Laufbahn. Von seinem klassischen Architekturstudium in Mexiko-Stadt ist in seinen Bauten nur noch wenig zu erkennen. Ausschlaggebend für seine Arbeit sind vor allem sein Studium der Vorfertigung im Bau in Israel und seine 24-jährige Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Heberto Castillo – eine ikonische Figur, sowohl in der Baukonstruktion als auch in der nationalen Politik. Es sind vor allem Castillos Raumkonzeption und seine Tragwerke, die einen beträchtlichen Einfluss auf Romanos Architektursprache haben. Castillo hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seine Projekte von allem zu befreien, was unnötiges Gewicht hinzufügt oder nur wenig statische Relevanz hat.

Dieses Prinzip findet in Romanos Raumkonzeptionen und Tragwerken seine Anwendung – dadurch, dass die Wand zum zentralen Element wird. Die Wand ist in Romanos Praxis das einzige Tragelement, sie ist sowohl das teilende als auch das verpackende Element. Und sie ermöglicht eine absolute Freiheit des Innenraums. Man könnte abschließend sogar sagen: Romano führt, mit deutlicher Referenz zu Castillos Idealen, mit der Torre Reforma Le Corbusiers freie Grundrissgestaltung in neue Dimensionen.

Innerhalb von hundert Jahren hat sich damit die Rolle des architektonischen Elements Wand von „hinderlich“ zu „wünschenswert” gewandelt.

 

Dieser Text stammt aus unserem Sonderheft „Mexiko – Zwischen neuer Blüte und neuen Mauern“.

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