24.05.2017

Wohnen

Verborgene Schätze

Casa Melandri

 

Seit einigen Wochen ist die Mailänder Möbelmesse vorbei, die Messestände sind geschlossen, die Veranstaltungen der ehemaligen Gewerbegegend Tortona sind vorüber, und die internationalen Gäste sind zurück nach Paris, London und New York geflogen. Die Begeisterung für die Modemetropole aber lässt nicht nach. Jedes Jahr wird die Stadt in den Medien immer mehr gefeiert als erfolgreiches Beispiel, wie man in Europa eine Stadt radikal erneuern kann. Denn Mailand war jahrelang die graue Metropole des Business, der Industrie und der Betontürme – vor allem im Bewusstsein der Italiener, die an die Pracht etwa von Venedig, Florenz, Rom und Neapel gewöhnt sind. Und sicherlich wirkt die Stadt im dichten winterlichen Nebel, mit seinen ungeschmückten Fassaden und seinen Bürohochhäusern eher trist. „Mailand ist eine Stadt zum Entdecken“ behaupten die Einwohner oft als Verteidigung. Es ist kein Euphemismus: Sie haben Recht, wie eine neue, während der diesjährigen Möbelmesse präsentierte Publikation zeigt.

Gio Ponti, Antonio Fornaroli, Alberto Rosselli, 1952–56 Copyright: © Delfino Sisto Legnani
Giuseppe Roberto Martinenghi, 1937 Copyright: © Paola Pansini
Casa Melandri, Gio Ponti, Alberto Rosselli, 1954–57 Copyright: © Delfino Sisto Legnani

Das Buch „Entryways of Milan“ von Karl Kolbitz dokumentiert auf 384 Seiten mit großformatigen Bildern 144 spektakuläre Eingänge von Mailänder Wohnhäusern, die zwischen 1920 und 1970 gebaut worden sind. Der Autor, der Berliner Art Director Karl Kolbitz, versammelte für dieses Buch drei Fotografen, vier Kunst- und Architekturhistoriker, einen Architekten und eine Steinexpertin und schuf einen einzigartigen Band mit profunden Beiträgen und eindrucksvollen Fotografien. Denn es sind die Eingangsbereiche, in denen sich der Sinn und Geschmack der wohlhabenden Einwohner der Stadt offenbart, etwas versteckt hinter der Sachlichkeit der Straßenfassaden. Die Architektur verkörpert also die Haltung ihrer Bauherren, nimmt sich etwas zurück, wie die Mailänder selbst. Das Netz innovativer Architekturbüros, hoch spezialisierter Handwerker, junger Designer und wohlhabender Bauherren in der Stadt wird im Buch durch ihre Arbeiten zelebriert; darunter sind so berühmte Architekten wie Giovanni Muzio, Gio Ponti, Luigi Caccia Dominioni sowie weniger bekannten Künstler. Es geht um Raumerlebnisse, aber auch um Details: Fliesen, Mosaiken und Türgriffe, die die Mailänder Eingänge zu Gesamtkunstwerken machen.

Ob die neue Mailänder Kreativität, mit der sich die Stadt aktuell neu erfindet, auf diese lange Tradition aufbaut, werden wir in den kommenden Jahren sehen. Schön jedenfalls, dass man auch durch solche Bücher endlich diese Stadt wiederentdecken kann. Selbstverständlich ist Mailand keine Oase in dem von der Krise stark betroffenen Land. Die Stadt gehört nicht nur zum Italien der Kreativität, des Geschmacks und Savoir-vivre, sondern auch zum Land der Vergeudung, des Populismus und der schlechten Politik – die beiden sind schließlich eng miteinander verbunden. Seit einigen Jahren hat der Journalist und Schriftsteller Roberto Saviano die Verbindungen zwischen den potenten Firmen der Stadt und den Mafias vom Süden offenbart, vor knapp 20 Jahren nannte man Mailand noch „Tangentopoli“ – Stadt der Schmiergeldzahlungen.  Schließlich kamen aus dem kulturellen Umfeld der Mailänder Bourgeoisie zwei der vielleicht problematischste Persönlichkeiten des modernen Italien, nämlich Benito Mussolini und Silvio Berlusconi. Dies nur am Rande.

Heute boomt vor allem die Architektur in der Stadt, wie etwa: Fondazione Prada, Mudec, Fondazione Feltrinelli und die Wohntürme von Libeskind, Hadid und Isozaki, die gerade im Entstehen sind. Das Buch „Entryways of Milan“ erinnert daran, dass es auch gute Mailänder Architekten gab und gibt.

„Entryways of Milan – Ingressi di Milano“ von Karl Kolbitz ist über den Taschen-Verlag erhältlich.

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