15.12.2022

Öffentlich

The Line: Stadt der Superlative

Nachhaltigkeit
Im Juli präsentierte der Kronprinz von Saudi_Arabien Mohammed bin Salman bin Abdulaziz detaillierte Visualisierungen der Öffentlichkeit. Visualisierung: © Neom
Im Juli präsentierte der Kronprinz von Saudi_Arabien Mohammed bin Salman bin Abdulaziz detaillierte Visualisierungen der Öffentlichkeit. Visualisierung: © Neom

Saudi-Arabien plant einen Superlativ mitten in der Wüste: Eine 200 Milliarden Dollar teure, 170 Kilometer lange, 200 Meter breite und 500 Meter hohe Stadt für neun Millionen Einwohner. The Line heißt das Projekt und wird den Nordwesten Saudi-Arabiens mit dem Roten Meer verbinden. Ohne Straßen und ohne Kohlendioxidemissionen soll die Bandstadt als Beispiel für nachhaltiges Bauen ein Zeichen gegen den Klimawandel setzen. Doch lassen sich die ambitionierten Ziele des arabischen Kronprinzen umsetzen?

Mit The Line sollen neue Arbeitsplätze geschaffen sowie ein minimaler CO2-Fußabdruck garantiert werden. Foto: © Neom
Mit The Line sollen neue Arbeitsplätze geschaffen sowie ein minimaler CO2-Fußabdruck garantiert werden. Visualisierung: © Neom

Wenig Platz, viel Inhalt

Trotz ihrer extremen Außenmaße nimmt The Line nur sehr wenig Fläche in Anspruch. Durch das Bauen in die Höhe beträgt der Fußabdruck der 150 Stockwerke hohen Stadt lediglich 34 Quadratkilometer. Durch die kleine Grundfläche soll die umliegende Natur zu 95 Prozent erhalten bleiben und den Einwohnern der Bandstadt zugänglich gemacht werden. So ist beispielsweise in den angrenzenden Bergen ein Skigebiet geplant. Angesichts der Lage in der Wüste widerspricht dieser Wunsch der Darstellung von The Line als umweltfreundliches Projekt.


Die Vision: Nachhaltigkeit dank des Low-Tech-Prinzips

Der Grundgedanke von The Line ist auf den zweiten Blick weniger verrückt, als er scheint. Der Aufbau der Bandstadt bedient sich eines Low-Tech-Prinzips, um mit dem unwirtlichen Klima umzugehen: Die verspiegelte Fassade reflektiert die Sonnenstrahlung und vermindert so die Bildung von Hitze innerhalb des Gebäudes. Durch ihre Höhe profitiert die Stadt vom Kamineffekt. Warme Luft steigt im Inneren nach oben, die Hitze entweicht über das offene Dach. Der Luftdruck im Gebäude nimmt nach oben zu, wodurch kühlere Luft in die tieferen Gebäudeteile nachströmen kann.

Der Kamineffekt soll bei der Klimatisierung auf natürlichem Wege in The Line helfen. Visualisierung: © Neom
Der Kamineffekt soll bei der Klimatisierung auf natürlichem Wege helfen. Visualisierung: © Neom

Eine geschlossene Gesellschaft in The Line

Das Projekt besteht aus mehreren aneinander gereihten Siedlungen, die energieautark funktionieren und ganzjährig ein gemäßigtes Klima bieten. Ein Gleichgewicht aus natürlicher Belüftung, Sonnenlicht und Schatten soll zum optimalen Wachstum der Pflanzen beitragen und den Bewohnern eine grüne Umgebung schaffen. Gewissermaßen wird eine eigene Biosphäre innerhalb der Stadt geschaffen, die zum Vorbild für den Städtebau auf unserem zunehmend überhitzenden Planeten werden könnte. Neben dem Prinzip der kurzen Wege sorgt auch das vielseitige Freizeitangebot dafür, dass ihre Bewohner die Bandstadt nie verlassen müssen. Neben Schwimmbädern und Gärten beheimatet The Line in 330 Metern Höhe sogar ein Stadion.

Sogar ein Stadion wird bei dem Bau von The Line eingeplant. Foto: © Neom
Sogar ein Stadion wird bei dem Bau von The Line eingeplant. Visualisierung: © Neom

Klimafreundlichkeit mithilfe der 15-Minuten-Stadt

Im Zentrum des Konzeptes von The Line steht die Autofreiheit. Hier orientieren sich die Planer an der stadtplanerischen Idee der „15-Minuten-Stadt“. Ziel ist, alle wichtigen Einrichtungen des täglichen Lebens, wie Arztpraxen, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten und Grünflächen zu Fuß innerhalb von fünf Minuten erreichen zu können. Der öffentlichen Personennahverkehr soll komplett unter der Erde liegen und die Einwohner von The Line über längere Stecken durch die Stadt befördern. Die 170 Kilometer lange Fahrt von einem Ende der Stadt zum anderen soll jedoch nicht länger als 20 Minuten dauern. Um die hierfür benötigte Durchschnittsgeschwindigkeit von 500 Stundenkilometern zu erreichen, werden die Drohnen und Flugtaxis von Hochgeschwindigkeitszügen und autonomen Autos ergänzt.

Der Kronprinz und zugleich Premierminister stellte in seinem Vortrag unter Anderem Flugtaxis als zukünftiges Fortbewegungsmittel vor. Visualisierung: © Neom
Der Kronprinz und zugleich Premierminister stellte in seinem Vortrag unter anderem Flugtaxis als zukünftiges Fortbewegungsmittel vor. Visualisierung: © Neom

Die Versorgungsleitungen der Bandstadt werden in das unterirdische Verkehrssystem integriert, damit ihre Organisation möglichst umweltfreundlich und geräuschlos abläuft. The Line soll ausschließlich von erneuerbaren Energiequellen versorgt werden: Solar-, Wasser- und Windkraft. Die Produktionsstätten dieser sauberen Energie werden eigens für den Stadtgürtel gebaut und in dessen direkter Nachbarschaft stehen.

Doch die beschriebene schöne neue Welt von The Line steht in der Kritik. Gerade die Infrastruktur ist nur umsetzbar, wenn durch Einsatz Künstlicher Intelligenz mindestens 90 Prozent des Alltags der Einwohner verfolgt wird. Zu Bedenken ist auch, dass eine solch hohe Technologisierung nur dann möglich ist, wenn die Bewohner dazu befähigt werden, die smarten Technologien zu nutzen und zu verstehen. Zusammen mit der Beschreibung von The Line als Ort, an dem „die Besten und Klügsten leben“ wirkt die Bandstadt nicht einladend, sondern selektierend.

In der Utopie von The Line soll auch Natur ihren Platz finden. Foto: © Neom
In der Utopie von The Line soll auch Natur ihren Platz finden. Visualisierung: © Neom

Vertreibung von Mensch wie Tier durch The Line

Die Bandstadt soll nicht dem archaischen System des Königreichs unterliegen, sondern ein eigenes, autonomes Rechtssystem erhalten, um der anhalten Kritik wegen Verstößen gegen die Menschenrechte in Saudi-Arabien entgegenzuwirken. Allerdings: Um die Stadt dort zu bauen, wo sie geplant wurde, wurde der indigene Stamm der Huwaitat aus der Region vertrieben.

The Line wirbt mit einem kleinen Fußabdruck. Dieser könnte aber zum Problem für die Biodiversität werden. Tiere kommen zum einen nicht an dem kolossalen Riegel vorbei, zum anderen wirken verspiegelte Fassaden als Todesfallen für Zugvögel. Die verdichtete Struktur der Bandstadt ist ebenso Argument für ihre geringe CO2-Bilanz. Doch um eine gigantische Struktur wie The Line zu bauen, scheiden etliche emissionsarme Baumaterialien aus. Um die Bandstadt umzusetzen, werden enorme Mengen Beton, Stahl und Glas benötigt. Experten schätzen etwa 1,8 Milliarden Tonnen CO2 an Emissionen, die für den Bau anfallen und etwaige Nachhaltigkeitseffekte durch den geringen Fußabdruck deutlich überwiegen.

Für den Bau von The Line wurden einige Menschen sowie Lebewesen aus ihrer Heimat vertrieben. Foto: © Neom
Für den Bau von The Line wurden schon einige Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Visualisierung: © Neom

Ob The Line tatsächlich umgesetzt wird, war lange Zeit, auch aufgrund des undurchsichtigen Planungsprozesses, nicht sicher. Satellitenbilder aus dem Oktober 2022 zeigen jedoch erkennbare Spuren von Erdarbeiten über eine Länge von circa 150 Kilometern genau dort, wo das bisher größte Bauprojekt der Menschheit entstehen soll. Mit Blick auf die Klimawende wird es in der Zukunft der Architektur immer wieder utopische Gedankenspiele geben müssen, die die Pläne zur Nachverdichtung unserer bestehenden Städte ergänzen. Wie The Line beweist, sollte man diese jedoch hinterfragen, spätestens nachdem man von den Hochglanzbroschüren der Utopien beeindruckt wurde.

Auf der Webseite von NEOM kann man sich selbst ein Bild vom Entwurf der gigantischen Planstadt machen.

Mehr zu The Line auch bei unseren Kolleginnen von Garten+Landschaft: Neues Mega-City Projekt in Saudi-Arabien

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