10.06.2016

Gewerbe

Stuttgart reißt sich mal wieder ab

Mit Liebe zum Detail: der Eingangsbereich des ENBW-Gebäudes

Wenn es ein Wort gibt, das den meisten Architekten aus den Ohren quillt, dann ist es dieses: Nachhaltigkeit. Sie wird immer wieder eingefordert, und bis heute ist nicht wirklich klar, was damit eigentlich gemeint ist.

Die Meinungen dazu gehen auseinander, was bei einem derartig schwammigen Begriff auch nicht weiter verwundert. Deshalb haben die verantwortlichen Stellen entschieden, das Ganze empirisch zu lösen. Unendliche Zahlenkolonnen in einer unüberschaubaren Anzahl sich ständig verändernder Verordnungen sollen Abhilfe schaffen – sei es die EnEV, diverse DIN-Normen oder das KfW-Kreditmodell für energieeffizientes Sanieren.

Aber was erreichen diese Verordnungen und Modelle wirklich? Kann Nachhaltigkeit tatsächlich darin bestehen, ein Gebäude mit Dämmung zu ummanteln, die nach ein paar Jahrzehnten wieder aufwendig entsorgt werden muss? Oder darin, dass häufig Bauschäden entstehen, weil die komplizierten Details oftmals nicht richtig ausgeführt oder gar nicht erst richtig geplant werden?

Bei all der Fokussierung auf Dämmwerte und alternative Energiegewinnung kommt ein Faktor erschreckend zu kurz: die ästhetische Nachhaltigkeit. Die ist zugegebenermaßen schwer zu verifizieren und lässt sich nicht in Zahlen packen. Dass sie aber fast wichtiger ist, als die oben genannten Faktoren, zeigt ein aktuelles Beispiel aus Stuttgart.

Das ENBW-Gebäude von Lederer Ragnarsdottir Oei soll nach nur 20 Jahren abgerissen werden.
Mit Liebe zum Detail: der Eingangsbereich des ENBW-Gebäudes
Hochwertige Räume: die Kantine des ENBW-Gebäudes

Dort soll die Erweiterung der ehemaligen EnBW-Zentrale abgerissen werden – nach gerade mal zwanzig Jahren! Das Gebäude wurde vom renommierten Stuttgarter Architekturbüro Lederer Ragnarsdottir Oei entworfen, das den meisten Baumeister-Lesern sicherlich ein Begriff ist.

Die Erweiterung der ehemaligen EnBW-Zentrale überzeugt dabei nicht nur durch ihre architektonische Qualität (die auch mit diversen Architekturpreisen belegt ist), sondern ironischerweise auch durch ihre energetische Nachhaltigkeit. Aber gerade bei der Ausführung kann sich das Gebäude sehen lassen. Wer Lederer Ragnarsdottir Oei kennt, weiß, dass dort viel Wert auf  gestalterische Details und hochwertige Materialien gelegt wird. Trotzdem wurde das damalige Budget von 57,5 Millionen Euro unterschritten – der Bau kostete letztendlich 50 Millionen Euro.

Nun soll er abgerissen werden – und das ist aus Sicht einer sinnvollen Nachhaltigkeit ein Desaster! Der Grund für den Abriss: ein Münchner Investor, der dort einen Büro- und Wohnkomplex entstehen lassen will. Was sich der Mann unter guter Architektur vorstellt, kann anhand der sogenannten „Pariser Höfe“ in Stuttgart besichtigt werden.

Es ist ein weiteres krasses Beispiel dafür, wie wirtschaftliche Interessen unsere Städte zerstören und den Gedanken einer nachhaltigen Architektur untergraben können. Es gibt aber auch Widerstand gegen das Vorhaben. Stuttgarts Baubürgermeister Peter Pätzold hat bereits angekündigt, den Abriss zu prüfen – der Ausgang ist offen.

„Es blutet einem das Herz“, hat Arno Lederer, Partner bei Lederer Ragnarsdottir Oei zu der ganzen Sache gesagt. Man kann ihm nur beipflichten.

Fotos: Roland Halbe

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