(Dieser Beitrag ist eine Zusammenarbeit mit unserer Schwesterzeitschrift Garten + Landschaft.)
Turin ist die Stadt des Slow Food. Alle zwei Jahre findet hier der Salone del Gusto statt, die weltweite Messe des Slow Food. In der Stadt gibt es zahlreiche Märkte und Läden mit einem Angebot handwerklich veredelter Lebensmittel, von der Schokolade bis zum Reismehl.
Der Filialist „Eataly“ zeigt, wie sich auch aus traditionellen Produkten ein großes Geschäft machen lässt, mittlerweile nicht mehr nur in italienischen Großstädten, sondern auch in New York und Tokio.
Der Boom von „slow“ und „local“ ist mit traditionell ländlichen Bildern verbunden. Eine Verbindung zur Landwirtschaft wird jedoch nicht hergestellt. Die agrarisch geprägte Landschaft entlang des Po findet wenig Beachtung. Wie aus dieser diffusen Peripherie in Verbindung mit einer zukunftsfähigen Landwirtschaft ein anerkannter Teil der Stadtlandschaft werden kann, damit hat sich im April 2014 das Erasmus Intensive Programme CITYGREENING auseinandergesetzt.
Beteiligt waren neben der organisierenden Politecnico di Torino (Architektur) der Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur der RWTH Aachen University (Architektur), die University of Brighton (Architektur), die Istanbul Technical University (Landschaftsarchitektur), die Tschechische technische Universität Prag (Architektur/Landschaftsarchitektur), die Université de Rennes (Geographie/Agronomie) und die UAECG Sofia (Stadtplanung).
Sechs international und interdisziplinär gemischte Gruppen haben nach einer Einführung durch internationale Experten und lokale Akteure elf Tage intensiv an Konzepten für die stadtnahe Landwirtschaft im Süden von Turin gearbeitet.
Dort überlagert Verkehrsinfrastruktur die Agrarlandschaft im Überschwemmungsgebiet des Po. Kiesabbau und ein Heizkraftwerk haben Teile der großflächigen Landwirtschaft entlang des Flusses verdrängt. Auch historische Landmarken wie Wegetrassen, Wehrhöfe oder ehemalige Viehmarkthallen sind heute kaum noch in der Landschaft ablesbar. Zwar nimmt die Landwirtschaft nach wie vor einen Großteil der Fläche ein, ihre Anliegen finden jedoch die geringste Anerkennung im Wettstreit der sektoralen Planungen.
Um diese Situation zu überwinden, spielten in den Überlegungen der Workshopteilnehmer vor allem die Zugänglichkeit, die Identität, die Wirtschaftlichkeit und die Kommunikation eine Rolle. Viele der beteiligten Architekten, Stadtplaner und Landschaftsarchitekten setzten vor allem auf die Lesbarkeit und Erlebbarkeit der Landschaft. Neue Wegeverbindungen sollen die Entdeckung der Landwirtschaft vor den Toren der Stadt ermöglichen, historische Strukturen als Leitlinien und Attraktionen dienen, auf denen sich eine neue Identität aufbauen lässt.
In Zusammenarbeit mit Geographen und Agronomen konnten diese räumlichen Strategien auch ökonomisch hinterlegt werden. Die Entwicklung von Wertschöpfungsketten für die Landwirtschaft spielt eine wichtige Rolle, um Landnutzung am Stadtrand zu stabilisieren. Mehrere Workshopteams entwickelten Modelle, wie Landwirte untereinander und mit stadtgesellschaftlichen Akteuren kooperieren könnten.
Die Konzepte des Workshops wurden an der RWTH Aachen vertieft. 13 Studierende der Lehrstühle für Gebäudelehre und Landschaftsarchitektur entwickelten in ihrer Bachelorarbeit einen Gebäude- und Freiraumentwurf, der die Ziele der Verknüpfung von Stadt und Landwirtschaft unter dem Titel casa / agricoltura aufgreifen sollte.
Helena Rafalsky ließ sich für ihre Arbeit „SaftMühle“ von den Produkten der Region Piemont und den privaten und kleingewerblichen Aktivitäten des Anbauens und Veredelns landwirtschaftlicher Produkte am Stadtrand inspirieren. Mit ihrem Gebäude schafft sie einen neuen Ort in der Zwischenstadt, an dem Menschen zusammenkommen können, um ihre Nahrungsmittel gemeinsam zu verarbeiten und zu genießen.
Friederike Henne nutzt als Standort für ihre casa agricoltura den bestehenden Parco Le Vallere am Po, dessen extensiv gepflegter Landschaftspark bisher kaum mit den benachbarten Landwirtschaftsflächen in Verbindung steht. In die Baumhecke, die eine verbindende Struktur zwischen Parkeingang am historischen Hof Le Vallere und dem Fluss, aber auch die Trennung zwischen Park und Landwirtschaft darstellt, integriert sie ein offenes Gebäude für die pädagogische Arbeit mit Kindern. Das Gebäude und eine neue Wegeverbindung stellt die Anbindung des Landschaftsparks an Felderlandschaft her.
Den auf den freien Feldern vor der Stadt gelegenen Weiler Barauda hat Fabian Klemp für sein Zentrum für Gartentherapie ausgewählt. Psychisch Erkrankte erhalten hier die Gelegenheit, sich im Kontakt mit der Natur und in strukturierten Abläufen den Weg zu einer geregelten Lebensweise zu erarbeiten.
Der Aufbau der Wohneinheiten ergibt sich aus den Maßen der Gartenbeete, die den Wohnungen direkt zugeordnet sind. Alle drei Entwürfe zeigen, wie sich Gebäude sowohl formal als auch funktional aus der Landschaft und ihrer landwirtschaftlichen Nutzung entwickeln lassen. Sie sind damit ein Beispiel, wie sich das Wissen und die Herangehensweisen von Architekten und Landschaftsarchitekten, hier in der Betreuung durch die beiden Lehrstühle der RWTH, in einer gemeinsamen Arbeit miteinander verschränken lassen.
Erasmus IP und Bachelorarbeit sind ein Versuch, einem neuen Konsumverhalten Orte zu geben. Mehr als jedes Bio-Siegel oder jede Herkunftsbezeichnung können diese Orte den Kontakt zu Landwirten, ihren Produkten und deren Verarbeitung herstellen und damit den Nachweis von Qualität erbringen. Slow Food bleibt nicht ein Schlagwort und Label, sondern wird in der Landschaft verankert.
Weitere Informationen: http://areeweb.polito.it/erasmus-ip-citygreening
Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur der RWTH Aachen University.
Fotos: Axel Timpe