08.07.2020

Portrait

Prolog von Winy Maas

Wohnraum verdichten


Narbe der Vergangenheit

Man kann sich wohl kaum einen interessanteren Augenblick für die Gastkuration einer Baumeister-Ausgabe vorstellen. In dieser ungewöhnlichen Zeit infolge der Coronavirus-Pandemie, die uns weltweit einen neuen Blick auf die Gesellschaften ermöglicht, in denen wir leben. Die Sorgfalt und das Fachwissen jedes Einzelnen werden erforderlich sein, um zu entscheiden, in was für einer Welt wir leben wollen, wenn alles vorbei ist.

Auch für mich persönlich ist dies ein spannender Zeitpunkt, ein deutsches Architekturmagazin herauszugeben. Denn MVRDV plant die Eröffnung eines weiteren Büros in Berlin. Dies ist für uns ein logischer Schritt, da unsere Beziehung besonders zu Berlin bis zur Gründung unseres Büros zurückreicht. Deutschland ist eine feste Größe in meiner beruflichen Laufbahn. Viele der Ideen und Theorien, die das Werk von MVRDV definieren, hatten ihren Ursprung in Deutschland. Aber trotz dieser Verbindung zu Deutschland, die auf meine frühe Karriere zurückgeht, bin ich doch immer noch ein Außenstehender. Es gibt ein Sprichwort, das lautet „Wir wissen nicht, wer das Wasser entdeckt hat, aber mit Sicherheit war es kein Fisch“.

In dieser Hinsicht können meine Erfahrungen sowie meine Sicht auf die Architektur in Deutschland den Deutschen möglicherweise helfen, das Wasser zu sehen, in dem sie schwimmen. Ich hoffe, dass die folgende Mischung aus Geschichte und persönlichen Momenten die Grundlage für eine inspirierende Zusammenarbeit bieten kann.

Wir gründeten MVRDV nach dem Gewinn des Europan-Wettbewerbs 1992. Wir nannten das Wohnprojekt, das wir für Berlin entwarfen, „Berlin Voids“. Die Macht der Metropole Berlin hat uns schon damals fasziniert. Berlin war eine aufstrebende Hauptstadt – besser gesagt, eine wiederaufstrebende Hauptstadt. Und der Projektstandort war unglaublich spannend, direkt neben der Berliner Mauer. Daher kann ich mich nicht einmal mehr an die anderen Projektorte des Europan-Wettbewerbs erinnern. Warum hätten wir denn überhaupt einen anderen Ort in Betracht ziehen sollen?

Heute erkunden wir Städte in zunehmendem Maße wie Heinrich Schliemann Troja erforschte: indem wir verschiedene Schichten und Geschichten der Stadt aufdecken. Berlin war ein Paradebeispiel hierfür. Doch damals begann die Stadt mit der Entwicklung kompakter Blockrandbebauungen. Gedacht als eine Rückkehr zum historischen Stadtgrundriss Berlins, legte sich diese Dichte gleichzeitig aber wie eine Decke auf die historischen Schichten der Stadt, über ihre Zwischenräume. Wir waren nicht unbedingt gegen die Blockstruktur – sie kann einer Stadt einen bestimmten Charakter verleihen, auch wenn das Ergebnis in Berlin meiner Meinung nach etwas kalt wirkt. Wir aber wollten unseren Entwurf dazu nutzen, die historischen Schichten der Stadt sichtbar zu machen. Daher entwarfen wir einen Wohnturm, der viel höher und dichter ist als ein Häuserblock. Dank der Dichte, die dadurch erzielt wurde, konnten die Leerräume auf der verbleibenden Fläche erhalten werden – die Narben der Vergangenheit.

Zu jung für das Establishment

Es war uns natürlich klar, dass der Bau eines Wohnturms in Berlin damals kein unproblematisches Unterfangen war. Deshalb musste sich unser Entwurf von den Wohnbauten abheben, die zu Zeiten der DDR gebaut worden waren. Und wer sagt, dass dichte Wohnbebauung monoton und einheitlich sein muss? Warum sollte ein Wohnturm nicht mit einer Anzahl verschiedener Appartements ausgestattet sein, die zur Auswahl stehen? Deshalb haben wir unsere ganze Energie in die Entwicklung einer Vielzahl verschiedener Wohnungstypen gesteckt, die sich alle wie ein Puzzle zusammenfügen.

Bei diesem Wettbewerb hatten wir großartige Befürworter, die wirklich an unser Projekt glaubten. Wir hatten jedoch auch einige einflussreiche Gegner. Daraus entwickelte sich eine Kontroverse, die wir verloren haben. Zu dieser Zeit war ich Anfang dreißig; Jacob und Nathalie waren noch nicht einmal dreißig Jahre alt. In dem jungen Alter erwies es sich als eine nicht zu bewältigende Aufgabe, gegen das Establishment zu kämpfen. Damals habe ich es nicht verstanden. Doch daran musste ich mich gewöhnen, wenn ich in Deutschland arbeitete!

Urbane Dichte und die Qualität des Leerraums

Glücklicherweise konnten wir nicht einmal zehn Jahre später eine unserer großen Erfolgsgeschichten – nicht nur in Deutschland, sondern auch für den Werdegang unseres Büros – verbuchen, als wir den niederländischen Pavillon der Expo 2000 in Hannover bauten. Die Niederländer erwarben ein sehr großes Grundstück für die Expo, um Präsenz zu zeigen. Sie wollten Gärten anlegen, weil die Niederländer dies besonders gut können. Doch wir fanden, dass man allein mit Gärten, selbst auf einem großen Grundstück, nicht sehr viel Präsenz zeigt. Warum stapeln wir diese Gärten nicht übereinander? Auf diese Weise erhält man zwei Elemente: Das eine ist ein Objekt, das die Überlagerung von Programmen zelebriert und das Potenzial dieser Vermischungen erforscht. Das andere Element ist die verbleibende Fläche, die Deutschland zur Verwendung für die Expo zurückgegeben wird. Wie schon in Berlin ging es bei der Erzeugung von Dichte um die dadurch entstehende Leere und den Wert dieser Leere.

Wenn Rem Koolhaas heute sagt, wir sollten uns wieder mehr auf die ländlichen Gegenden konzentrieren, so haben wir mit der Expo 2000 bereits vor zwei Jahrzehnten darauf geantwortet: dass der ländliche Raum weiterhin der Forst- und Landwirtschaft zur Verfügung stehen sollte, während die Städte verdichtet werden. Denn wir wollten uns der Herausforderung stellen, die Realisierbarkeit unseres Ideals von Dichte zu erforschen.Die Entwurfsidee des Expo-Pavillons befasste sich mit der Entwicklung einer städtischen Dichte, die nicht nur aus stupiden Hochhäusern besteht, die von der Entnahme von ländlichen Ressourcen zehren. Stattdessen sollten Hochhäuser die Produktion von Energie, Nahrungsmitteln und Sauerstoff angehen. Der Pavillon stellte zudem in Frage, ob es eine perfekte Trennung zwischen ländlicher Natur und urbaner Künstlichkeit geben sollte. Auch Landschaft kann zum Teil als künstlich bezeichnet werden – besonders in den Niederlanden, aber auch sonst überall. Warum kann Natur nicht auch ein zentraler Bestandteil unseres urbanen Umfelds werden?

“Darauf bin ich stolz.”

Der Pavillon wurde zum erkennbaren Symbol der Expo. Wir sprechen nicht von einer Art Sputnik wie etwa das Atomium in Brüssel. Man könnte ihn eher als Gebäudeprototyp bezeichnen. Es erfüllt mich durchaus mit ein wenig Stolz, dass ich mich – sowohl
in meiner Entwurfsarbeit als auch in der Forschung mit The Why Factory – derzeit mehr mit der Verbindung von Architektur und Natur befasse. Dieses Thema steht zunehmend im Vordergrund unserer Arbeit. Das niederländische Klimaabkommen wird einige Maßnahmen in diese Richtung forcieren, und unser Gebäude hat dazu beigetragen. Darauf bin ich stolz.

Den gesamten Prolog von Winy Maas lesen Sie im Baumeister curated by MVRDV.

Scroll to Top