Eine der wesentlichen Stadtrituale – so die These der Fotografin – ist das Vermuten oder das Erraten von Orten. Die FassadenFassaden sind die Außenwände von Gebäuden, die zur Straße hin sichtbar sind. eines Gebäudes bieten deshalb nicht durch ihre Öffnungen, sondern gerade durch ihre Geschlossenheit, einen Anlass diesen Prozess anzuregen. Ein Blick hinter einen halbgeschlossenen Fensterladenist eine Abdeckung, die über dem Fenster angebracht wird, um vor Sonnenlicht, Regen und Wind zu schützen. Fensterläden können in verschiedenen Materialien hergestellt werden, wie zum Beispiel Holz oder Metall., ein Lachen hinter einer angelehnten Tür: all diese verborgene Interaktionen nähren die Fantasie des Passanten. Die Fassaden der Gebäude sind unser erster visueller und sensorischer Kontakt mit einer neuen Stadt. Sie erzählen von einer möglichen Geschichte, die sich dahinter abspielt.
Aber wie ist es, wenn dieser erste Kontakt der einzige bleibt? Wenn das Alltägliche nur eine Oberfläche ohne Inhalt ist? Dieser Frage geht die Bildreihe „Façades“ nach: Wie würde eine Stadt ohne die Blicke, die Geräusche und das Lachen aussehen?
In ihrer Schlichtheit erzeugen die Bilder der jungen Fotografin eine „Unstadt“, einen beklemmenden Ort, der ein Unbehagen im Betrachter hervorruft, weil man alles sieht und nichts mehr interpretieren kann. An einem solchen Ort geht die Anonymität der Großstadt verloren und damit auch die Individualität des Einzelnen.
Im Gegensatz zu den Gedichten von Charles Baudlaire, in denen die distanzierte Beobachtung des Stadtlebens ein auslösendes Momente für die eigenen Phantasie ist, gibt es hier keine Möglichkeit der individuellen Interpretation. Viel bleibt dann nicht mehr übrig. Gerade dadurch regt das Fotoprojekt ein Nachdenken über das Wesen der Stadt an. Es ist eine Ode an das Verborgene, die Anonymität und die Fantasie des städtischen Flaneurs.