16.08.2021

Öffentlich

Rote Leselandschaft

Die Nationalbibliothek von Luxemburg erhielt einen Neubau des Münsteraner Architekturbüros Bolles+Wilson. In den mehr als 15 Jahren zwischen Wettbewerb und Fertigstellung legte der Bau einen langen Weg zurück – auch wortwörtlich.

Foto: © Christian Richters

Als 1993 der Neubau der Stadtbibliothek Münster von Julia Bolles und Peter Wilson eingeweiht wurde, war das Presseecho auf den Entwurf des jungen Büros enthusiastisch. Die beiden Architekten hatten sechs Jahre zuvor den Wettbewerb mit einem Vorschlag gewonnen, der in der Münsteraner Innenstadt einen völlig neuen Akzent setzte. Anders als in vielen anderen deutschen Städten hatte man sich in Münster nach dem Krieg entschlossen, die weitgehend zerstörte Innenstadt in Anlehnung an das Vorkriegsstadtbild wiederaufzubauen. Der neuen Bibliothek fehlte dagegen alles Historische. Dennoch fügte sie sich geschickt in den Bestand ein.

Bolles und Wilson griffen bei ihrem Entwurf zwar die Kleinteiligkeit der Altstadt auf, in Form und Materialität fanden sie dagegen eine Sprache, die man so in Deutschland bisher nicht kannte. So trägt die Großform deutlich skulpturale Züge, ohne Anleihen etwa beim Brutalismus der Siebzigerjahre zu nehmen. Die Architekten teilten den Baukörper durch eine Gasse in zwei Teile, so dass Passanten quasi durch den Lesesaal laufen. Die Bibliothek wird zum lebendigen Teil des Stadtgefüges.

Atmosphärische Aquarellskizzen. Zeichnungen: © BOLLES+WILSON

Inzwischen besteht Bolles+Wilson über 40 Jahre, davon 32 Jahre in Münster, wohin das Büro 1989 umzog. Julia Bolles und Peter Wilson haben beide lange Jahre an verschiedenen Hochschulen gelehrt. Immer wieder konnte ihr Büro auch wichtige Arbeiten im Ausland realisieren. Dennoch: In den Kreis der deutschen Großbüros wollte oder konnte man nie aufsteigen. Im Wesenskern bleib man ein wenig wie der Bürostandort Münster: selbstbewusste Provinz, die es nicht nötig hat, nach Berlin, Köln oder Düsseldorf zu schielen.

 

Foto: © Christian Richters
Foto: © Christian Richters

Nationalbibliothek auf Wanderschaft

Mit der Fertigstellung der Nationalbibliothek des Großherzogtums Luxemburg haben Bolles und Wilson mehr als 25 Jahre nach der Münsteraner Stadtbibliothek erneut ihre Ideen zu dieser Bauaufgabe ausgebreitet. Der große zeitliche Abstand trügt ein wenig, denn den Wettbewerb um das Projekt gewann das Büro bereits 2003. Als der Bau dann ab dem Jahr 2014 realisiert wurde, war allerdings kaum noch etwas wie im ursprünglichen Entwurf. Vor allem war eines nicht mehr das gleiche, nämlich das Baugrundstück.

Ursprünglich hatten die Architekten den Umbau eines Bestandsgebäudes geplant: Die Nationalbibliothek sollte aus einem maroden Haus in der Innenstadt in den Robert-Schuman-Bau umziehen. Der Komplex aus den frühen Siebzigerjahren war der erste Sitz des Europaparlamentes. Er liegt direkt neben der 2005 eigeweihten Philharmonie von Christian de Portzamparc und dem 2006 eröffneten Museum für zeitgenössische Kunst MUDAM von Ieoh Ming Pei. Dadurch wäre auf dem Kirchberg-Plateau vis-à-vis der Luxemburger Altstadt ein bemerkenswertes Kulturforum entstanden. Doch das Umbauvorhaben erwies sich als schwierig und 2009 beschloss das Luxemburger Parlament, dass die Nationalbibliothek knapp zwei Kilometer weiter stadtauswärts ein völlig neues Gebäude erhalten sollte.

Zwischen altem und neuem Standort erstreckt sich entlang der Avenue Kennedy das „europäische“ Luxemburg mit seinen Banken und EU-Institutionen. Hier haben große Namen der modernen Architektur ihre Visitenkarte hinterlassen. Gegenüber der Nationalbibliothek etwa steht Gottfried Böhms 1991 fertiggestellte Repräsentanz der Deutschen Bank. Seit 2017 erschließt die neue Luxemburger Straßenbahn das Kirchberg-Plateau. Dank der Linie entlang der Avenue Kennedy ist der Bibliotheksstandort gut an die Innenstadt angeschlossen.

Grundriss in Umgebung. Plangrafik: © BOLLES+WILSON

Leselandschaft am Hang

 

Trotz des anderen Bauplatzes konnten Bolles und Wilson das Grundkonzept ihres Entwurfes im Wesentlichen beibehalten. Sie platzieren das Foyer der Nationalbibliothek am tiefsten Punkt des Baugeländes an der Avenue Kennedy. Am entgegengesetzten Ende, nahe dem Bergrücken des Kirchberges, befindet sich das Büchermagazin. Die Architekten haben es halbversunken als fünfstöckigen, abgeschlossenen Betonkubus geplant. Zwischen Foyer und Magazin erstreckt sich der Lesesaal. Mehrere abgetreppte Galeriegeschosse führen vom Niveau des Foyers auf das „Dach“ des Magazinkubus. Dort befindet sich eine große Leseebene. Die gesamte großflächige „Leselandschaft“ überspannten die Architekten mit einem enormen Holzdach. Große dreieckige Oberlichter erhellen den Saal. Verwaltung und Sonderlesesäle fassen ihn seitlich ein.

 

Foto: © Christian Richters
Foto: © Christian Richters
Foto: © Christian Richters
Foto: © Christian Richters

 

Das Äußere der Bibliothek bestimmen großformatige Platten aus rot durchgefärbtem Beton, mit denen die Architekten ihr Gebäude verkleidet haben. Die Oberflächen der Platten wurden unterschiedlich behandelt. So ist ein Farbspiel entstanden, das an roten Sandstein denken lässt. Fensterbänder und die wie eingeschnitten wirkende Eingangszone setzten Bolles und Wilson dagegen weiß ab.

Das schönste Element der Fassade ist der kleine „Turm“, mit dem die Architekten die Straßenecke zwischen Avenue Kennedy und Boulevard Adenauer hervorheben. Er verleiht der Bibliothek einen geradezu malerischen Zug. Dagegen wirken die sich im und am Gebäude vielfach wiederholenden Dreiecke etwas manieriert.

 

Foto: © Christian Richters
Foto: © Christian Richters
Foto: © Christian Richters

Nachhaltiger Buchspeicher

 

Wichtiges Ziel des Projektes war es, eine nachhaltige Bibliothek zu entwickeln. Die Grundfläche unter der Erdgeschossplatte ist als Erdkälteregister ausgebildet. Auf dem Dach ist eine Photovoltaikanlage montiert. Zudem ist eine gesteuerte Nachtauskühlung vorhanden. Wo immer möglich, berücksichtigten die Architekten die Erfordernisse der Zirkularität bei den verbauten Materialien. Das große Holzdach, das den Lesesaal überspannt, steht dabei zeichenhaft für den Anspruch von Bolles und Wilson, nachhaltige Architektur zu entwickeln.

Wird die Nationalbibliothek des Großherzogtums Luxemburg ein ebenso großer Erfolg für Bolles und Wilson wie seinerzeit die viel kleinere Stadtbibliothek in Münster? Wahrscheinlich eher nicht. Das liegt nicht unbedingt an der Qualität ihres Entwurfs. Vielmehr hat es damit zu tun, dass dem Grundstück, auf dem sie ihren Bau schließlich errichten konnten, ein wenig der Charme fehlt. Der Charme, den die ursprünglich vorgesehene Lage gegenüber der Luxemburger Altstadt gehabt hätte. Oder eben der Charme der Münsteraner Innenstadt mit ihren sandsteingelben Giebelhäusern, zu denen Bolles und Wilsons ein Vierteljahrhundert alte Bibliotheksskulptur immer noch einen spannenden Kontrast bildet.

Noch nicht genug vom Thema? Ein ehemaliges Kloster haben die Architekten von Korteknie Stuhlmacher in eine wunderschöne Bibliothek verwandelt.

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