13.07.2020

Öffentlich

„I Can See For Miles and Miles“ (The Who)

Incorporation-Szenario: Liegt die Lösung in weiterer urbaner Verdichtung und Technisierung der Landschaft?

Aus welcher Perspektive man auch auf Architektur blickt, sie ist eine der Stellschrauben in Fragen einer nachhaltigen Welt. Aber wie lange noch sind unsere eingeschlagenen Richtungen auch richtig? Schlafwandeln in der digitalen und technoiden Matrix, die Beherrschung von Regelwerken führen keineswegs auf direktem Weg zur CO2-Neutralität. Architektur muss dringend ihre Ambitionen und Lösungsansätze neu kalibrieren, andere Fragen stellen, in anderen Zusammenhängen denken. Neu denken. Wie gelingt uns das? Oder tun 
wir das vielleicht bereits? Geht Deutschland trotz Nachhaltigkeit nach Vorschrift bereits in diese Richtung? Der Flug eines Träumers. Der Soundtrack für eine nachhaltige Architektur.

Incorporation-Szenario: Liegt die Lösung in weiterer urbaner Verdichtung und Technisierung der Landschaft?
Infiltration-Szenario: Sollen wir die Brachflächen an den Rändern der Ballungszentren einfach bewirtschaften, ohne diese „urbane Landwirtschaft“ zu hinterfragen?
Negotiation-Szenario: Kann „landwirtschaftlicher Urbanismus“ das Ergebnis gleichberechtigter Verhandlungen zwischen Stadtplanung und Landwirtschaft sein?
Secession-Szenario: Ist es der richtige Weg, auf der Suche nach Autonomie die Hegemonie der Metropolen infrage zu stellen?

Das Passivhaus-Klischee

Illustrationen: Martin Étienne

 

… Die Reise führt uns im Flug über eine wachsende Anzahl von Häusern. Etwas Seltsames scheint ihnen widerfahren zu sein. Damit kommen wir zurück zur Energieversorgung: Die von Photovoltaikanlagen auf Dächern dominierten Dörfer und Gemeinden sind ein besonders deutsches Phänomen. Fast ein Zehntel deutscher Energie stammt aus Photovoltaikanlagen. Der Bau der Anlagen boomte in den 2010er-Jahren, da Solarmodule über die Einspeisevergütung gefördert wurden (die China zu Lasten der lokalen Industrie auf den deutschen Markt brachte). Die von dunklen Spiegeln bevölkerten Dächer sind besonders häufig in Dörfern anzutreffen und dringen bis in die Ballungsräume.

Zwar stammt nur ein Siebtel der deutschen Solarenergie aus Anlagen mit einer Leistung von weniger als zehn Kilowatt, wie etwa bei Solarmodulen auf den Dächern der Fall. Dennoch entstand so ein neuer deutscher ortstypischer Baustil. Einheimische Architektur ist ein kostbares Gut, das in unserer globalisierten Welt dahinschwindet. Aber ist dieser neue Baustil erstrebenswert? Die meisten deutschen Satteldächer aus dem 20. Jahrhundert sind äußerst langweilig und daher vermutlich ein besserer Standort für Solarmodule als die von Solarparks bedeckten Felder. Wie die Beatles schon sangen, „here comes the Sun, and I say it’s alright”.

Viel mehr als durch die Solarpanele jedoch wird das Aussehen alter Häuser durch eine Außenisolierung verändert. Mit farbigen Dämmplatten überzogene Backsteinfassaden haben schon fast wieder etwas Postmodernes. Wärmedämmung bildet die Grundlage für eine weitere neue deutsche ortstypische Architektur, das Passivhaus. Nach Passivhausstandard zertifizierte Häuser mit luftdichten Gebäudehüllen verbrauchen so gut wie keine Energie, um bei jedem Wetter gemütliche Innenräume zu schaffen. So entstand das Klischee der Spielzeughäuser mit schäbigen kleinen Fenstern, die man nicht öffnen kann.

Der deutsche Traum

In Wahrheit kann man Passivhausfenster durchaus so bauen, dass man sie öffnen kann. Und dreifachverglaste Fenster können auch groß sein. Zudem gilt der Passivhausstandard nicht nur für Häuser. Vielleicht erfüllt das deutsche Passivhaus-Klischee aber auch einfach nur den deutschen Traum eines gepflegten Hauses, in dem man sich von den Nachbarn abschotten kann.

Dies ist ein Auszug aus dem Artikel „I Can See For Miles and Miles“ (The Who) im Baumeister curated by MVRDV. Mehr zu nachhaltiger Archiektur und der Spezialausgabe des Baumeisters finden Sie hier.

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