07.05.2014

Öffentlich

Landgelüste, Landlasten oder Stadtlandschaften der anderen Art

„Lasst die Dörfer sterben!“ So oder so ähnlich lautete kürzlich die Forderung eines prominenten Fachmannes aus Sachsen-Anhalt. Aber das hat er nun davon, denn kaum ausgesprochen, ist er seinen Direktorenposten schon wieder los. Das Leben auf dem Land ist ein heißes Thema, was die hohe Auflage der Landlust, einer im westfälischen Münster herausgegebenen Propagandaschrift für „Landscape Fiction“, unschwer beweist. Allerdings wird die Lust aufs Landleben auch im Westen Deutschlands immer häufiger zur Last. Was tun, wenn der letzte Tante-Emma-Laden zumacht, wenn auch der letzten Dorfkneipe die Stammtischkundschaft abhanden gekommen ist oder der einzig verbliebene Landarzt seinen Kittel endgültig an den Nagel gehängt hat? Dann verflüchtigen sich dörfliche Hauptstraßen zu Durchzugs-schneisen mit kaum noch wahrnehmbaren Rändern. So siecht das Landleben nicht nur im Osten, sondern auch im Westen schon seit geraumer Zeit schleichend dahin. Architektur spielt dabei keine Rolle mehr, gilt es im ländlichen Raum doch als ausgemachter Schwachsinn, Nichtsnutzer wie Architekten mit Werterhaltendem zu beauftragen.

Ein düsteres Bild, das stimmt und dennoch kaum der Realität entspricht. Denn an Stelle verblühender Landschaften, sprich sterbender Dörfer oder verödender Kleinstädte, haben sich an den landschaftlich exquisitesten Stellen Westdeutschlands längst stadt- oder dorfanaloge Gebilde eingenistet, welche die These von der LandLast letztlich Lügen strafen. Gemeint sind die unzähligen, weit über NRW verstreuten Areale für Dauercamper und Mobilheimer, in denen immer mehr Stadt- und Dorfflüchter per Hauptwohnsitz die Erfüllung ihres Lebenstraums finden. Wo sonst werden denn unbezahlbare See-, Fluss- oder Aussichtslagen fürs Dauerwohnen auf einmal erschwinglich? Verglichen mit den ehemaligen Mieten und Nebenkosten sind die hier anfallenden Stand- und Energiegebühren aufs Jahr hochgerechnet für Flüchtlinge und Neusiedler nur noch ein Pappenstiel. Die etwa 100 Quadratmeter großen Parzellen sind klein und machen wenig Arbeit. Laut SPIEGEL „gleichen die Mobilheime geschrumpften Vorstadthäusern: ein Stockwerk, dünne, aber isolierte Wände. Bei den Oasen-Bewohnern sind sie beliebt. In verschiedenen Farben und Variationen säumen sie hier die Straßen, meist von einem kleinen Garten umgeben. Es gibt keine Vorschriften für Hecken, Fahnenmast oder Carport. Jeder darf sich hier einrichten, wie er will.“

Alte wie Junge, ja selbst kinderreiche Familien zieht es nicht zuletzt deshalb hierher. Viele der Anlagen verfügen auch schon über Kinderkrippen, Senioreneinrichtungen, Krankenstationen, Einkaufs- und Gemeinschaftszentren, Postämter, Restaurants, Sport- und Freizeitanlagen. Mit dem eigenen PKW oder per ÖPNV sind Ballungsräume und Arbeitsstätten in aller Regel problemlos erreichbar. Und das Schönste: Arme und Reiche leben in friedlicher Eintracht und – man staune – auf gleichermaßen geschrumpften Wohnflächen friedlich nebeneinander. Da steht das klapprige, selbst zusammengebastelte Mobile Home des jungen Hartz IV-Empfängers nebst angelehntem Uraltfahrrad direkt neben dem schicken Trailer mit High-Tech-Küche und Luxusbad eines wohlhabenden ehemaligen Managers. Einziger Unterschied: während der eine die zentrale WC- und Duschanlage aufsuchen muss, wenn er aufs Klo will, kann der andere genüsslich sein eigenes Bad mit WC nutzen. Letzterer darf sogar seinen Lebenstraum, einen Mercedes SL 350, als Statussymbol unmittelbar vor der „Hütte“ parken.

Was jedoch beide, wie auch alle anderen Bewohner, auf demokratische Weise miteinander vereint, das ist die jeweils auf nur wenige Quadratmeter beschränkte Wohnfläche. Große Möbel sind hier ebenso fehl am Platze wie all der Krimskram gehobenen Lifestyles. Le Corbusier, von dem das Bonmot stammt, demzufolge unser ganzes Leben doch eigentlich „in ein Schnupftuch” passe, hätte vermutlich seine Freude an solchen Agglomerationen. Auch wenn ihm das fehlende Stapeln der Wohneinheiten sicher gegen den Strich gehen würde.

Von der breiten Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, haben sich somit in Westdeutschland rhizomartig regelrechte Alternativstädte etabliert, für die einen den Traum des idealen, stadtanalogen Landlebens, für die anderen den Inbegriff der Landschaftszerstörung und pseudourbaner Spießigkeit verkörpernd. Man stelle sich vor, alle kleinen Kommunen und Dörfer wären irgendwann einmal vielleicht verschwunden bis auf diese Ersatzstädte. Man fröstelt. LandLust versus LandLast…honny soit qui mal y pense!

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