Die immaterielle Kapelle
Orte der Stille und Andacht – die Kapellen im verwunschenen Park der Insel San Giorgio Maggiore waren ein Publikumsmagnet der letztjährigen Architekturbiennale in Venedig. Erstmals beauftragte der Vatikan zehn namhafte Architekturbüros, ihre Vorstellung einer Kapelle als Ort des Nachdenkens und der Begegnung umzusetzen. Das außergewöhnlichste Projekt stammt von der kaum bekannten, brasilianischen Architektin Carla Juaçaba.
In Europa bislang meist nur Insidern ein Begriff, ist die junge Architektin aus Rio de Janeiro eine der interessantesten Protagonistinnen der neuen brasilianischen Architektengeneration. Mit dem „Humanidade Pavilion“, einem riesigen, radikal einfachen Gitterbauwerk für Begleitveranstaltungen zur UN-Konferenz in Rio 2012, schuf Carla Juaçaba ein Meisterwerk der temporären Architektur, das auf große internationale Resonanztritt auf, wenn ein System auf eine bestimmte Frequenz eingestellt ist und auf diese verstärkt reagiert. Im Kontext der Akustik kann eine Resonanz in einem Raum auftreten, wenn bestimmte Frequenzen verstärkt werden und dadurch unerwünschte Raumresonanzen entstehen. stieß. Die 170 Meter lange und 20 Meter hohe Megastruktur aus einem Gerüstbausystem mit „schwebend“ eingehängten Rampen und Containern erschien wie eine Realisierung von Yona Friedmans Utopien. Das offene Gehäuse stand, kraftvoll und durchlässig zugleich sowie mit der Regisseurin Bia Lessa konzipiert, als Begegnungs- und Veranstaltungsort an der Copacabana. An den zehn Tagen seiner Öffnung flanierten 200.000 Besucher über die Rampen, nahmen an Diskussionen teil, besuchten Ausstellungen und Vorträge, trafen sich im Café, genossen den Ausblick von der Dachplattform auf die Strände, die Stadt, das Meer.
Rio und die umliegenden Hügel sind der Arbeitsort von Carla Juaçaba. Hier arbeitet sie seit dem Jahr 2000 in ihrem eigenen Büro, gestaltet Ausstellungsräume und entwirft eine Reihe außergewöhnlicher, stringenter und zugleich kostengünstiger Einfamilienhäuser. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Projekte und Studien zu öffentlichen Räumen und kulturellen Nutzungen. All ihre Entwürfe gehen sensibel auf den Kontext ein und vereinen ausgeklügelte konstruktive Konzepte mit bewusst reduzierter Materialauswahl; charakteristisch für Juaçabas Arbeiten sind die konstruktive Klarheit, die Reduktion auf das Wesentliche und eine ausdrucksstarke Architektur, die Freiräume in der Nutzung anbietet.
Ihr Beitrag für die „Vatikanischen Kapellen“ auf der Insel San Giorgio Maggiore in Venedigs Lagune zeigt diese Raumaktivierung auf faszinierende Weise. Im Gegensatz zu den großteils massiven und introvertierten Kapellen der anderen beteiligten Architekturbüros, deren Gebäudehüllen den Sakralraum gleichsam aus der Umgebung herausschneiden, fügt Carla Juaçaba eine feingliedrige, schwerelose Installation aus spiegelnden Linien zwischen die Bäume ein. Vier schmale Stahlbalken, zu zwei Kreuzen montiert – eines liegend, eines stehend –, erzeugen mit minimalem Materialeinsatz einen vibrierenden Raum unter freiem Himmel, eine unmittelbar kontemplative Atmosphäre mit wenigen Mitteln.
Auf Fotos mag das Kreuz als allzu offensichtliches, plakatives Symbol wirken. Doch die Architektin hat ihrem Projekt eine faszinierende Vielschichtigkeit verliehen, die sich vor Ort durch die eigene Wahrnehmung erschließt. Zum einen liegt dies an der raffinierten Konstruktion: Die beiden Kreuze, bestehend aus acht Meter langen, nur 12 x 12 Zentimeter großen, teilweise innenseitig verstärkten Edelstahlrohren, sind dynamisch miteinander verbunden. Der durchlaufende Stahlbalken knickt an einer Seite nach oben ab und wird durch einen Querbalken zum Kreuz; ein zweiter Querbalken am anderen Ende dient als Sitzbank. Das weit in den Raum strahlende Gebilde liegt equilibristisch austariert auf Betonschwellen auf. Es lädt zum Verweilen ein und erzeugt unmittelbar und fast spielerisch ein Sinnbild der Fragilität – unserer Welt? unseres Glaubens?