05.11.2020

Wohnen

Heimat

Eike Becker


Heimat als Erfahrung

Was ist Heimat? Ein Ort? Ein Gefühl? Architekt und Kolumnist Eike Becker reflektiert in seiner Kolumne über den Begriff im Allgemeinen und über die Orte, die er als Heimat empfunden hat, im Besonderen. 

In der Zeit vor meiner Einschulung lebten meine Eltern mit meinem Bruder und mir in dem Örtchen Posthausen. Auf dem flachen Land, in Norddeutschland. Ich kann mich an eine von feuchten Mooren geprägte Landschaft erinnern, mit Entwässerungsgräben, Fröschen, Kröten, Kaulquappen und dem Geruch frisch gemähten Grases. Bauern, die noch mit Pferden pflügten. Torfstecher war ein Beruf. Der burschikose Pfarrer, der reformbegeisterte Lehrer, aber auch der gutmütige Hausmeister der Schule waren angesehene Personen. Wenn man in diesem Alter bereits verliebt sein kann, so war ich in Dorothea verliebt, die Tochter des Pastors. Unsere Milch holte ich von Freimuths mit der Milchkanne. Die leere hinstellen, die volle mitnehmen. Im Winter wurden Treibjagden veranstaltet. Zu klein zur Teilnahme, konnte ich hinterher draußen die Jagdhunde bewundern, während drinnen die Jäger Schnaps tranken.

So stellt man sich gemeinhin Heimat vor. Als Dorfidylle. Eine romantische Erinnerung an die Menschen, Tiere und Landschaften der Kindheit, die zum Paradies verklärt wird. Das reicht aber nicht, um sich heute in einer Welt multipler Identitäten und beschleunigter Urbanität verständlich zu machen:
Heimat ist auch der Landstrich, den man verlassen muss, um sich zu bilden und zu finden.
Heimat ist auch der gefühlsduselige Begriff, den die Nazis verbrannt haben. Und dem dann noch die Heimatfilme der 60er Jahre und der heutige Populismus stark zugesetzt haben.
Heimat ist auch der Begriff, mit dem man Minderheiten ausgrenzte: Unverheiratete, Ausländer, Homosexuelle, lange auch Frauen.
Unheimlich.
Aber ich gebe nicht auf. Weil es ein so schöner Begriff ist. Und weil er Hoffnung geben kann. Und Orientierung.

In den Folgejahren wurde ich in Scheeßel eingeschult, bin als Austauschschüler in Fairfax, Virginia, gewesen, habe in Aachen, Stuttgart und Paris studiert. Und in London gearbeitet, bevor ich nach Berlin gezogen bin. Überall fand ich neue Umgebungen, Menschen, Ideen, Versprechen und Hoffnungen. Immer wieder musste ich meine eigenen Positionen überprüfen, konkretisieren, relativieren, weiterentwickeln. Die Orte, die Menschen mit ihren Ansichten, Gewohnheiten und Eigenheiten, sie haben in mir Spuren hinterlassen, sind in mich hineingewachsen, sind Teil von mir geworden.
Dazu zählen die norddeutschen, bodenständigen Bauern. Aber auch die enthusiastischen Lehrer in Stuttgart und die humorvollen Kollegen in London.
An all den Orten habe ich mich zuhause gefühlt, weil ich Menschen begegnet bin, die mir nicht gleichgültig waren und die mich mochten. Gerade im Vergleich mit dem Anderen nimmt das Eigene Gestalt an.

Als Austauschschüler in den USA bin ich zum ersten Mal mit so etwas wie Nationalbewusstsein und Stolz auf die eigene Nation konfrontiert worden. Das kam mir unheimlich und kindlich zugleich vor. Der Beste macht ja alle anderen zu Verlierern.

Als Student in Paris fühlte ich mich fremd und nicht willkommen. Die Menschen in dieser anspruchsvollen Stadt hatten viel mit sich zu tun. Aber ich war beeindruckt von der schönen Sprache, die ich nicht sprach und den grandiosen Architekturen, die hier über Jahrhunderte in immer wieder neuen Stilen errichtet worden sind.

In London habe ich gelernt, wie wichtig Humor ist. Dort habe ich einen distanzierten, weltoffenen Blick auf das eigene Schaffen bekommen. Nichts ist vollkommen. Aber wir fangen mal an mit der Reparatur. Die Gesellschaft wirkte auf mich, mit ihren exklusiven Traditionen, fest gefügt in ihren Hierarchien. Mich dort selbstständig zu machen, erschien mir aussichtslos.

Heimat ist Bestandteil der eigenen Identität. In die wird man heute nicht mehr hineingeboren. Man entscheidet sich.

Als ich nach dem Mauerfall nach Berlin kam, war die Stadt der Krisen und Katastrophen entgrenzt. An allen Ecken und Enden offene, ungelöste, unbebaute, unbesetzte Positionen. Leere Häuser, die besetzt werden konnten. Leere Erdgeschosse, für Ausstellungen, Cafés, Restaurants und Kiezläden. Leeres gesellschaftliches Leben, das gestaltet werden konnte. Das zog Menschen aus vielen unterschiedlichen Ländern an.
Die internationalen, liberalen, kulturell und wirtschaftlich aktiven Zugezogenen prägen heute in weiten Teilen die Stadt. Wer von Berlin spricht, spricht von Ihnen und ihren Taten. Diese Minderheit macht die Stadt attraktiv.

Berlin als Heimat

Berlin ist aber auch das Zuhause von den vielen, die gefühlt schon immer da waren. Die Mieter in Marzahn-Hellersdorf genauso, wie die in der Gropius Stadt und in Mitte.
Kaum etwas hat die Stadt so verändert, wie die Architektur. Durch neue Gebäude, Umbauten und veränderte Verkehrswege, durch gesellschaftlichen Wandel und durch die damit verbundene mögliche Entwertung von Lebensvorstellungen. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Konfliktlinien beim Thema Wohnungsbau aufbrechen. In Berlin besitzen die Menschen ihre Wohnungen nicht. Sie sind zu 87 Prozent Mieter. Die Mietsteigerungen schlugen ungebremst durch. Wer in der Stadt, in der er leben möchte, seine Miete nicht mehr bezahlen kann oder keine passende Wohnung findet, fühlt sich zurückgewiesen. Deshalb ist es so immanent wichtig, die Städte offen zu halten. Offen für die Menschen, die dazu kommen wollen und für die, die bleiben wollen. Dafür lohnt es sich, große Anstrengungen zu unternehmen. Die gerechte, soziale Stadt ist die offene Stadt, die Willkommensstadt. Ist die Stadt mit freundlichen, toleranten Menschen, die Stadt, die allen eine Heimat bietet.

Heimat ist, was wir im Zwischenmenschlichen schaffen. Das zu fördern, ist Aufgabe der Architektur. Weil das auch morgen so sein soll, ist eine klimaneutrale Wirtschaft und eine soziale Mobilität Voraussetzung für die Hoffnung auf eine zukünftige Heimat.

Heimatliche Gefühle, von Vertrautem umfasst und geborgen zu sein, dazuzugehören, erkannt zu werden, empfinde ich heute in vielen Lebenssituationen. Zum Beispiel, wenn ich zum gemeinsamen Abendessen nach Hause komme, wenn ich mit unserer Tochter über die katholische Soziallehre diskutiere, mit unserem Sohn über Fußball spreche, während einer Fahrt durch den Tiergarten oder einfach beim Sport mit Freunden. wenn ich ein Bühnenbild von Anna Viebrock sehe oder das Haus von Ray und Charles Eames in Los Angeles besuche.

Definition von Heimat

Warum ist das Heimat für mich? Weil all das besonders menschlich ist, vertraut, achtsam, schlau oder kreativ ist, weil es offen und inklusiv ist oder besonders gelungen. Weil es eine Inspiration für mich ist, poetisch und schön ist, weil es sozial ist, gerecht ist, solidarisch ist oder ganz einfach ein Meisterwerk ist.
Weil all das mir ein Zuhause gibt.

Meine Mutter war gerade dabei sich von einem Schlaganfall zu erholen. Bei meinem Besuch wünschte sie sich, mal wieder nach Posthausen zu fahren. Da war sie wieder, die Sehnsucht nach dem Paradies. Dort angekommen, konnte ich kaum glauben, was ich sah: Das Örtchen wurde zwischenzeitlich vollkommen vom größten Einkaufszentrum Norddeutschlands zerstört, geraubt, verdorben, geklaut. Riesige Kaufhallen, bar jeden architektonischen Anspruchs, wurde inmitten noch größerer Parkplatzwüsten in die Landschaft geklotzt. Der damals proppere Neubau mit den Lehrerwohnungen, dem großzügigen Garten und dem Kaninchenstall direkt neben den Gemüsebeeten war von der größten Anlieferzone Norddeutschlands geschluckt geworden. Die Schule war in die nächstgrößere Gemeinde verlegt worden, um Platz zu machen für Eat happy, Easy Fitness, GenießerWelt und SportWelt.
Wessen Heimat kann das sein?

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