21.07.2022

Event

Documenta fifteen – Architektur

Blick auf ein kleines, würfelförmiges Gebäude aus schwarzen Kohlebriketts, in der Eingangsöffnung steht eine Frau. Documenta fifteen, Reflecting Point 2 Friedrichsplatz: Kohlemuseum, Foto: Christoph Hesse
Reflecting Point 2 Friedrichsplatz: Kohlemuseum, Foto: Christoph Hesse

Auf der skandalgebeutelten diesjährigen Documenta in Kassel ist auch die Architektur präsent – wenngleich in einer Nebenrolle. Der BDA Kassel hat sich mit einem bemerkenswerten Projekt an der Weltkunstschau beteiligt.

Der Documenta fifteen einen schlechten Start zu bescheinigen, ist noch stark untertrieben. Der Skandal um antisemitische Stereotype auf dem Bild „People’s Justice“ der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi hat die Weltkunstschau enorm beschädigt. Inzwischen ist das Großgemälde von seinem Aufstellungsort auf dem Friedrichsplatz, dem Epizentrum der Documenta, entfernt. Nach langem Zögern ist auch Generaldirektorin Schormann schließlich zurückgetreten. Zumindest in der medialen Rezeption sind die an 16 Standorten im Kasseler Stadtgebiet gezeigten Arbeiten weitgehend hinter dem Skandal verschwunden. Die Besucher und Besucherinnen scheinen dagegen augenscheinlich mit der Arbeit der diesjährigen Kuratoren, dem Künstlerkollektiv Ruangrupa, mehr anfangen zu können.

Blick auf ein Gebäude mit bunten Malereien auf der Fassade. documenta fifteen, ruruHaus, Kassel, 2021, Foto: Nicolas Wefers
documenta fifteen, ruruHaus, Kassel, 2021, Foto: Nicolas Wefers

Zentraler Dreh- und Angelpunkt der Documenta fifteen

Architektur spielt auf der Documenta immer nur eine Nebenrolle. Doch es lohnt sich dennoch gleich aus mehrfacher Sicht diesen Aspekt der Documenta fifteen nicht unbeachtet zu lassen. Das beginnt mit dem ruruHaus, dem zentralen Dreh- und Angelpunkt der diesjährigen Veranstaltung. Das ehemalige Kaufhaus aus den Fünfzigerjahren liegt direkt am Friedrichsplatz und damit in unmittelbarer Nähe des Fridericianums und der Documenta-Halle, den traditionellen Hauptausstellungsorten. Der Bau war seit einiger Zeit unvermietet und konnte deshalb bereits während der Vorbereitung der Ausstellung als „Zentrale“ vom Kuratorenteam für die Planungs- und Vernetzungsarbeit genutzt werden.

Das ruruHaus soll ein Ort sein „in dem Initiativen aus Kassel (und die eingeladenen Künstler) miteinander in Verbindung treten und sich selbst als ein Kollektiv von Kollektiven in die Zukunft ausweiten können“, erklärt der offizielle Katalog. Neben dieser Funktion dient das Erdgeschoss auch als zentrale Anlaufstelle für die Documenta-Besucher. Die wichtigste Veränderung, die Ruangrupa am Bestandgebäude hat vornehmen lassen, besteht in dem großflächigen Fassadengemälde. Ansonsten wurden Erd-, Ober- und Untergeschoss im Grunde genommen nur ausgeräumt. Einige wenige Sperrholzpodeste im Obergeschoss bilden die Infrastruktur für Podiumsdiskussionen oder Workshops. Im Untergeschoss werden einige Projekte lokaler Initiativen gezeigt, wobei sich die Ausstellungsarchitektur auf zusammengezimmerte Sockel beschränkt.

Umnutzung zum Besucherzentrum

Ob das ruruHaus nach der Documenta wieder kommerziell genutzt wird, steht noch nicht ganz fest. Rückbauarbeiten werden jedenfalls kaum erforderlich sein. Die minimalinvasive Vorgehensweise hat allerdings nicht nur Vorteile. Die Kaufhausimmobilie besitzt keine optimalen Voraussetzungen für die Umnutzung zum Besucherzentrum. Es fehlen Möglichkeiten für eine leistungsfähige Gastronomie. Vor aller aber fehlen große und gut zugängliche Sanitärräume. Die Organisatoren versuchen den Mangel dadurch zu mildern, dass sie die vorhandenen WCs zu Unisex-Toiletten deklariert haben. Die vormaligen Herrentoiletten erhielten ein Urinal-Piktogramm, das allerdings bei weitem nicht alle Besucher zu deuten wissen.

Blick aus der Vogelperspektive auf einen Hof mit Bodengemälde, Hochbeeten, einem Tisch und Bänken. Documenta fifteen, Reflecting Point 1 am ruruhaus: Silent Room, Foto:
Reflecting Point 1 am ruruhaus: Silent Room, Fotos: BDA Hessen, Gruppe Kassel
Blick auf einen Hof mit buntem Bodengemälde, Hochbeeten und einem Gerüst. Documenta fifteen, Reflecting Point 1 am ruruhaus: Silent Room, Foto

Ruheorte auf der Documenta – „Reflecting Points“

Die Architektenperspektive war auf der Documenta insbesondere durch die Gruppe Kassel des BDA Hessen vertreten. Treibende Kraft hinter dem Projekt „Reflecting Points“ ist Christoph Hesse. Hesses Installationsserie „Open Mind Places“, die er 2020 rund um sein Heimatdorf Refringhausen im Sauerland errichtet hat, fand medial viel Aufmerksamkeit. So traten die Kuratoren von Ruangrupa an Hesse mit dem Wunsch heran, ein ähnliches Projekt in Kassel zu realisieren. Wie die „Open Mind Places“ dienen auch die „Reflecting Points“ als Ruheorte, die die Besucher und Besucherinnen der Welt kurzzeitig entrücken sollen. Angeordnet sind sie teils nahe den Hauptausstellungsorten, teils im Park der Karlsaue. Die Karlsaue bildet das Bindeglied zwischen der Kasseler Innenstadt und dem Stadtteil Bettenhausen, wo die Documenta fifteen ihren zweiten räumlichen Schwerpunkt hat.

Der erste Reflecting Point befindet sich auf einem Innenhof direkt hinter dem ruruHaus. Er ist in erster Linie als Ort für Pausen und Feiern der Documenta-Mitarbeiter gedacht. Entworfen haben ihn das Büro Baufrösche, HHS Planer und Architekten sowie das Landschaftsarchitekturbüro GTL Michael Triebswetter. Sie haben den freudlosen Parkplatz mit einem kräftig farbigen Bodengemälde versehen, Hochbeete aufgestellt und mittels einer Gerüststruktur Sitzinseln geschaffen.

Ein Pavillon aus Kohlebriketts

Während bei dem Reflecting Point am ruruHaus der Nutzwert im Vordergrund steht, bewegt sich das „Kohlemuseum“ von Christoph Hesse und der vormaligen Präsidentin der Bundesarchitektenkammer Barbara Ettinger-Brickmann auf der Grenze zwischen Architektur und Installation. Hesse und Ettinger-Brickmann haben einen kleinen Pavillon aus Kohlebriketts errichtet in den sie ein Spalier aus Stahlmatten eingeschrieben haben. Zwischen den beiden „Wandschalen“ sind Pflanzen aufgestellt. Die beiden Architekten begreifen ihren Pavillon als Plädoyer für ein Ende des fossilen Zeitalters. Gleichzeitig ist ihr kleines Bauwerk, anders als große Teile der Documenta, klar in der europäischen Kunstgeschichte verankert. So ist die innere Schale aus Eisengitter in die Form eines Trikonchos gebogen. Hesse und Ettinger-Brickmann leiten das Motiv, das natürlich weit älter ist, aus dem barocken Gartenplan der Karlsaue ab.

Blick auf einen Kreis aus mehreren Baumstämmen vor einem See. Documenta fifteen, Reflecting Point 5 Karlsaue Aueteich: Maria, Foto: Christoph Hesse
Reflecting Point 5 Karlsaue Aueteich: Maria, Foto: Christoph Hesse
Blick entlang einer Sichtachse in einem Park, links und rechts hohe Bäume im Zentrum ein pyramidenförmiges Bauwerk aus Holz. Documenta fifteen, Reflecting Point 4 Achse Karlsaue: Kollektiv, Foto: Christoph Hesse
Reflecting Point 4 Achse Karlsaue: Kollektiv, Foto: Christoph Hesse

Barocke Gartenkunst und Überlegungen zur Wiederaufforstung vereint

In der Installation „Maria“ in der Karlsaue, ebenfalls von Hesse und Ettinger-Brinckmann, erscheint es erneut. Die Installation besteht hauptsächlich aus den majestätischen Überresten einer 125 Jahre alten Fichte. Der Baum, den Hesses Großmutter einst pflanzte, verdurstete im vergangenen Jahr in Folge des Klimawandels. Die Architekten haben den Stamm in sieben hohe Pfähle geteilt, die im Kreis einen hier als Stahlbordüre ausgeformten Trikonchos umstehen.

Der Reflecting Point „Kollektiv“, der gleich daneben liegt, spielt mit der barocken Sichtachse zwischen der Orangerie und dem Tempel auf der Schwaneninsel. Hesse und Ettinger-Brickmann haben aus sogenannten Hordengattern – Zäune, um Jungbäume vor Verbiss zu schützen – einen Baukörper mit einem tunnelartigen Durchgang in seiner Mitte gebaut. Der Durchgang rahmt je nach Blickrichtung den Tempel und den Mittelpavillon der Orangerie. Hier verbinden sich Themen wie der barocke Point de vue und die barocke Gartenkunst mit Überlegungen zur Wiederaufforstung klimageschädigter Nadelwälder durch einen resilienten Mischwald.

Blick auf ein pyramidenförmiges Gebäude aus Holz, davor ein hölzerner Steg und ein Baum. Documenta fifteen, Reflecting Point 7 am Hallenbad Ost: KIRI Project, Foto:
Reflecting Point 7 am Hallenbad Ost: The KIRI Project, Foto: BDA Hessen, Gruppe Kassel

Ein pyramidenförmiger Pavillon aus Holz

Das „Luftbad“ an der Fulda, das punkt 4 Architekten und Reichelarchitekten realisiert haben, bietet dagegen ganz praktischen Nutzwert. Am Hiroshima-Ufer, an dem sich der Fluss dem Stadtzentrum am stärksten nähert, schafft es eine Infrastruktur zum Baden und Sonnen. Neben Stegen, Sitzstufen und Liegeflächen haben die Architekten auch formschöne Umkleidezellen aus Flechtwerk geschaffen. Ein kleiner Eingangspavillon mit offener Nutzung komplettiert das Ensemble.

Ebenfalls in enger Verbindung zur Kasseler Parklandschaft steht der Reflecting Point vor dem ehemaligen Hallenbad Ost. Das frisch sanierte Werk des Neuen Bauens in Kassel-Bettenhausen ist ein diesjähriger Documenta-Standort. KM Architekten haben das „KIRI Project“ geschaffen, um die Möglichkeiten von Kiri-Holz zu demonstrieren. Die Architekten bauten aus dem Holz des sehr schnell wachsenden Baumes einen Steg und einen Pavillon in Pyramidenform. Die Pyramide oder genauer der Pyramidenstumpf ist ein direkter Bezug auf den Kasseler Herkules auf der Wilhelmshöhe. Ihm dient eine solche Pyramide als Sockel. Die Architekten wollen diesen Verweis als Forderung nach mehr Kulturangeboten für Kassel-Ost verstanden wissen. Der Steg dagegen soll auf die schlechte verkehrliche Anbindung des Stadtteils aufmerksam machen.

Innenraum eines schmalen, hölzernen, spitz nach oben zulaufenden Gebäudes, oben mit einer Öffnung und frontal eine geöffnete, doppelflügelige Türe. Documenta fifteen, Reflecting Point 7 am Hallenbad Ost: KIRI Project, Foto:
Reflecting Point 7 am Hallenbad Ost: The KIRI Project, Fotos: BDA Hessen, Gruppe Kassel
Eine lange, hölzerne Bank in einem Raum mit Wänden und Boden ebenfalls aus Holz. Documenta fifteen, Reflecting Point 7 am Hallenbad Ost: KIRI Project, Foto:

Eine lokale Architektur-Stimme auf der Documenta fifteen

Nachhaltigkeit ist und bleibt derzeit das zentrale Thema in der Architektur auch auf der Documenta. Inzwischen ist es kaum denkbar, dass solche temporären Projekte ohne ausgefeiltes Konzept zur Ressourcenschonung und Wiedergewinnung der Baumaterialien umgesetzt werden. Das erscheint uns 2022 selbstverständlich und wäre doch noch vor fünf Jahren in dieser Form undenkbar gewesen. Das Repräsentationsbedürfnis des Kunstbetriebs ist ganz klar einer CO2-Scham gewichen. Gut so! Das Projekt des BDA Kassel bringt dabei eine lokale Architektur-Stimme in die Weltkunstschau ein. Trotz aller Bezüge in die Kasseler Kulturgeschichte – provinziell ist das Projekt dennoch nicht.

Auf der Kunstbiennale 2022 in Venedig ist die Architektur ebenfalls vertreten: Der Mailänder Architekt Stefano Boeri entwarf einen Pavillon. Mehr über das temporäre Bauwerk erfahren Sie hier.

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