19.12.2016

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Deuber über die Hagia Sophia

Hagia Sophia

Hagia Sophia,
Angela Deuber,
537 n. Chr.

In ihrem Buch „Reminiscence“ porträtieren Benedict Esche und Benedikt Hartl die besondere Beziehung zwischen Bauwerk und Architekt. Dort kommen wegweisende Architekten zu Wort, die über ihre architektonische Prägung und deren Einfluss auf die eigene Arbeit schreiben. Hier sinniert die junge  Architektin Angela Deuber über die Widerstandskraft in der Architektur:

Hagia Sophia

 

„Die Geschichte der Hagia Sophia und ihre Widerstandskraft sind faszinierend. Sie ist ein monumentales Beispiel dafür, dass Unmögliches möglich werden kann, wenn ein Individuum oder eine Gemeinschaft ein Ziel verfolgt und eine Vision hat. Die alte Hagia Sophia wurde erbaut, niedergebrannt, durch eine neue Kirche ersetzt, wiederum zerstört. Die heutige Hagia Sophia wurde unter dem oströmischen Kaiser Justinian I. von Anthemios von Tralleis und Isidoros von Milet in nur fünf Jahren Bauzeit als Reichskirche, Thronsaal, Gotteshaus und Schauplatz für Kaiserkrönungen errichtet. Kurze Zeit später stürzte sie während eines Erdbebens ein. Sie wurde erneut in nur fünf Jahren wiederaufgebaut und stürzte später noch zweimal ganz oder teilweise ein. Sie wurde geplündert und diente als römisch-katholische Kirche, fiel wieder an die orthodoxe Kirche zurück und wurde schliesslich zu einer der wichtigsten Moscheen der islamischen Welt, bis sie letztendlich zum Museum wurde. Die Kraft und die Ausstrahlung dieses Bauwerks kommt nicht von aussen, sondern steckt in seinem Wesen, in ihm selbst. Die Hagia Sophia war und ist so kräftig, monumental und faszinierend, dass, egal wie oft sie eingestürzt ist, wie unmöglich die Bauzeit für ihren Aufbau erschien, sie immer wieder errichtet wurde, ja, errichtet werden musste – unabhängig vom Glauben der gerade Herrschenden.

Die Hagia Sophia ist eine einzigartige Synthese von additivem Langraum und absolutem Zentralraum. Sie ist eine Durchdringung von zwei Raumsystemen, die eine neue und komplexe Struktur schaffen. Die beiden Systeme unterstützen sich gegenseitig und ermöglichen es, dass der eine Raum durch den jeweils anderen stärker erlebt werden kann. Der Zentralraum wird von der Kuppel mit einem Durchmesser von 33 Metern und einer Scheitelhöhe von 66 Metern überragt. Sie wird von jeweils vier Gurtbögen, Pendentifs und Pfeilern getragen. An die Kuppel schliessen sich im Osten und Westen jeweils zwei halbierte Rundbauten an. Der Zentralbau ruht in sich und ist in alle Richtungen und in den Himmel orientiert. Der Langraum ist etwa 80 Meter lang und 70 Meter breit. Von der Vorhalle im Westen, dem Exonarthex, über den inneren Vorhof der Kirche, dem Narthex, und weiter über das Mittelschiff ist der Langraum auf die Apsis im Osten ausgerichtet und bildet Umgänge zum Zentralraum. Die Seitenschiffe und Emporen sind vor dem Hintergrund des Zentralraums richtungslose Nebenräume. So entsteht die Weite des Mittelraums durch die umliegenden Raumschichten. Der Mittelraum kann leicht wirken, da die vier Pfeiler in diesen Schichten verschwinden können. Beide Raumsysteme sind in sich stimmig und nicht austauschbar. Durch ihre Überlagerung und Durchdringung entstehen neue komplexe Welten. Die beiden Welten überlagern sich, verstärken sich gegenseitig. Sie sind – und waren es offensichtlich über die Jahrhunderte – faszinierend geheimnisvoll.“

Weitere Informationen zum Buch finden Sie hier

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