23.02.2015

Gewerbe

Der Grace-Jones-Faktor

Gerade habe ich meiner Tochter noch die Latein-Vokabeln abgefragt, schon sitze ich im Auto und höre Turandot, die Oper von Puccini. Um 9 Uhr Besprechung mit A, B und C zu dem Grundstück D. Dann E wegen F anrufen, telefonieren, telefonieren, telefonieren, anschließend Team 1, T2, T3, Mittagessen mit H wegen I, nachmittags BDA-Galerie, Sport mit meinem Sohn, Abendessen, Vorstandssitzung.

Vater, Hörer, Architekt, Grübler, Auftragnehmer, Arbeitgeber, Partner, Kollege, Vorstand, Sportler, Ehemann. Diese umeinander schwirrenden Rollen, diese Wirklichkeiten als Bestandteile von Wirklichkeiten sind heutige Realität. Keiner ist nur noch eine einzige Person.

Diese Vorstellung von den Welten neben und in anderen Welten beschreibt auch unsere Lebens- und Arbeitsumgebung ganz gut. Nur sehr selten sind wir auf uns alleine gestellt. Immer wieder gilt es unterschiedliche Perspektiven zu erkennen, zu bewerten und zusammenzubringen. Ein Projektentwickler sieht in einem Projekt etwas deutlich anderes als ein Politiker, ein Stadtplaner, ein Architekt, ein Nachbar, ein Bauphysiker, ein Tragwerksplaner, ein Behindertenbeauftragter, ein Arbeitnehmervertreter. Demnach planen wir innerhalb eines Vorhabens viele Gebäude gleichzeitig. Klar, da ist nach der Fertigstellung das real existierende, physisch vorhandene, einmalige Haus. Aber zusätzlich gibt es die vielen Häuser in den Vorstellungen der anderen. Wenn das so ist, hat das Einfluss auf unser Denken und Handeln. Immer häufiger müssen wir Erkenntnisse von anderen nutzen, um passende Antworten für eine deutlich anspruchsvollere und unübersichtlichere Welt zu finden.

Immer häufiger müssen wir Erkenntnisse von anderen nutzen, um passende Antworten für eine deutlich anspruchsvollere und unübersichtlichere Welt zu finden. Alle wollen ja auch mehr. Mehr Licht, Luft, Wärme, Normen, Können, Platz, Schönheit, Technik, Medien, Wohlbefinden, usw. Das alles kann nur mit der richtigen Sichtweise, Interpretation, dem passenden Kompass und neuen Ideen gelingen. Alles geht – und soll gehen. Aber daraus wird nicht automatisch eine richtige Lösung, eine gute Idee, starke Architektur oder eine erfolgreiche Stadt. Wir müssen uns einlassen auf diese Welt. Müssen differenzierter denken. Müssen vielfältigere Lösungen suchen und finden. Denn viele Umgebungen sind komplizierter und abwechslungsreicher geworden.

Die Fakten sind bekannt. Die Leistungsfähigkeit von Prozessoren verdoppelt sich alle 18 Monate, das Wissen der Welt verdoppelt sich angeblich etwa alle acht Jahre, medizinisches Wissen sogar alle fünf Jahre. Die Anzahl der Menschen mit wissenschaftlich-technischer Ausbildung ist zwischen 1950 und 2000 von zehn auf 100 Millionen angestiegen. Tim Berners-Lee machte das World-Wide-Web-Projekt 1991 öffentlich und weltweit verfügbar. Seitdem verbreiten sich Nachrichten, Trends, Erkenntnisse, Wissen und Ideen in rasendem Tempo. Seit 2001 verkauft Apple den iPod, 2007 wurde das iPhone vorgestellt. Das ist alles noch nicht allzu lange her. Die Menschheit, Internetadressen, Bauvorhaben, Pkws, Flugzeuge, Popsongs, wissenschaftliche Veröffentlichungen, täglich fahrende Züge in Deutschland – alles wird mehr, mehr, mehr.

Klar, Quantität ist nicht gleich Qualität. Die Unübersichtlichkeit bedarf der Klärung. Viele wünschen sich dabei einfache Antworten, klare Ansagen, erkennbare Sachverhalte und offensichtliche Lösungen: „entweder/oder, ja/nein“-Lösungen. Viele wünschen sich so sehr Sicherheit und versuchen Risiken auszuschließen. Aber die Spielregeln haben sich verändert. Das Universum ist explodiert, zerschlagen in endlos viele Galaxien. Staub, Sterne, Löcher und Planeten rasen um und ineinander und in absehbarer Zeit kommt das nicht mehr zusammen.

Also, was heißt das, was bedeutet das für die, die sich mit dem Bauen, mit Architektur und Stadt beschäftigen, wenn alles in und um uns vielfältiger, schneller und unübersichtlicher geworden ist? Die Werkzeugkiste dafür ist bestückt mit Neugier, Leidenschaft und Mut, Flexibilität, Risikobereitschaft, mit Kreativität, Kultur und Ideen, mit Offenheit und Zusammenarbeit, kurz: mit Innovationen.

All das im Hinterkopf komme ich gerade von einem Mittagessen mit Arno Brandlhuber und Sam Chermayeff. Er spricht davon, Ideen auf den Grace-Jones-Faktor hin zu überprüfen. Grace Jones als Maß aller Dinge: Atemraubend kraftvoll, schockierend innovativ, gekonnt mutig mit ganz viel Morgen im Heute. In dem Sinne frage ich: Wieviel Grace Jones steckt in Dir?

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