Zeit steht niemals still. Sie schreitet unaufhaltsam voran, Sekunde um Sekunde, und zieht den Menschen mit sich, zerrt an ihm. Innehalten fällt schwer. In Großstädten, im urbanen Raum ist diese Eile besonders spürbar. Doch was passiert, wenn man nun doch innehält? Still stehen bleibt und sich der Umgebung hingibt? In den Kunstwerken von André Lemmens gelingt dieses Innehalten; sie zeigen den Mehrwert des Entschleunigens: Bilder, wie eingefroren, mit Momenten aus dem urbanen Leben. Sie ermöglichen dem Betrachter, die alltägliche Umgebung in ihrer Besonderheit zu erfahren und neu zu erleben.
Weniger ist mehr
Tiefe erzeugt der Künstler in seinen Werken, indem er die Informationen einer Fotografie am Computer trennt. Er druckt anschließend die Farbinformationen auf eine Platte und die Schwarzinformationen auf eine andere. Die Plexiglasplatten legt er am Ende zusammen. Stellt sich der Betrachter seitlich vor das Werk, sieht er die räumliche Tiefe, im Hintergrund die Farbe und vorne die schwarze Silhouette. „Ich entfremde die urbane Situation“, erklärt André Lemmens. „Sie ist nicht so, wie sie auf dem Werk erscheint: Die Menschen stehen in der realen Situation oftmals hinten, ich ziehe sie aber durch die schwarze Farbe auf der ersten Platte nach vorne.“
In einer seiner Kompositionen, mit dem Titel „City Walk HH“, gliedern Konstitution und Linienkraft architektonischer Objekte den Raum. In der unteren Mitte: eine fünfköpfige Menschengruppe. Die Personen sind nur silhouettenhaft dargestellt – gleichfalls der gesamte Raum. Durch die Reduzierung gelingt es Lemmens, die Struktur der Stadt nachzuvollziehen. Parallelen, Symmetrien und Rasterungen sind auf einmal im Blickfeld des Betrachters – Gestaltungselemente, die in der Hektik des Alltags häufig untergehen. Das Interesse am urbanen Raum kommt bei André Lemmens nicht von ungefähr: Der 51-jährige ist Architekt. „Das mit der Kunst hat sich im Architekturstudium entwickelt“, erzählt Lemmens, der ein Büro in Kleve leitet. Er studierte an der Hochschule in Düsseldorf. Im Schwerpunkt Gestaltung entdeckte er die Liebe zur Kunst. André Lemmens sieht in sich beides vereint: Architekt und Künstler. Das eine existiert nicht ohne das andere. „Da gibt es eine Parallelität zwischen meinen Bildern und meiner Arbeit als Architekt“, sagt er. „Was ich in der Kunst tue, das findet man in der Architektur wieder: Dieses Gefühl, diese Seele und Tiefe meiner Arbeiten sieht man auch in meinen Häusern. Da bin ich sicher.“
Auf Pause stellen
Es ging ihm nie um klassische Fotografie – das Foto dient nur als Grundlage für die künstlerische Weiterentwicklung. Sogar Handybilder reichen aus. Und wenn eine ansprechende städtische Situation im Fernseher erscheint, dann stellt André Lemmens auf Pause und fotografiert die Szene ab. Auf Pause stellen – das ist es, was die Arbeiten ausmacht. Sie geben vermeintlich pulsierende Städte wieder, doch es ist wie auf Knopfdruck still. Die Hintergrundgeräusche verstummen, es ist nur ein Rauschen wahrzunehmen. Dieses Rauschen vermittelt das Bild durch die stilistisch eingesetzte Unschärfe. In einigen Arbeiten verstärkt Lemmens den diffusen Eindruck, indem er eine milchige Emulsion auf die Platte lackiert.
Leise Kritik an die Gesellschaft
Lemmens hebt Strukturen und Merkmale von Architekturen aus dem urbanen Raum hervor. Manchmal ist es ein wesentliches Element eines Baukörpers, manchmal sind es horizontale und vertikale Linien, Farbfelder. „Das Bild aus der Realität ist häufig nur grau und hässlich. Aber durch diese Reduzierung entsteht etwas Neues und Schönes.“ Lemmens maßt sich nicht an, über einen urbanen Raum zu urteilen.. Sein Standpunkt: „Ich will Orte im Moment festhalten. Orte, die Menschen jeden Tag passieren ohne sie wahrzunehmen.“ Durch das Festhalten bekommt die Situation einen neuen Inhalt: „Indirekt nehme ich eine kritische Haltung mit meiner Arbeit ein. Unsere Gesellschaft ist zu schnelllebig, alles zieht an ihr vorüber – ohne dass sie über Stadt, Ort und Architektur nachdenkt.“
Lemmens Fotoarbeiten zeigen entfremdete Plätze und Situationen aus New York, aber auch aus deutschen Städten wie Frankfurt, München, Stuttgart, Augsburg oder Bremen. „Mittlerweile habe ich ein Auge für eine Situation, für eine Architektur, für Diagonalen, Flächen, für Menschen“, sagt Lemmens. Seine Fotoarbeiten reiften genauso wie seine Architekturen: „Eine Arbeit bekommt mit der Zeit mehr Dichte, mehr Erfahrung. Die Häuser, die wir aktuell bauen, sind reifer als noch vor zehn, 20 Jahren.“ Sie seien selbstbewusster, hätten eine eindeutigere Formensprache, eine Handschrift,
Was lange währt …
Kunst entwickelt sich bei Lemmens in einem Prozess. Manchmal liegt eine Arbeit jahrelang in einem digitalen Ordner, setzt Staub an, bis er sie entstaubt, neu entdeckt, etwas sieht, was er Jahre zuvor nicht darin gesehen hat. Er spüre dann schnell, was an einem Foto spannend sei; weniger vom Bildaufbau, sondern wie sich das Foto im Laufe der Zeit verändere. So sicher war sich Lemmens in seiner Arbeit nicht immer. „Die ersten 15 Jahre habe ich mich in der Kunst tot gearbeitet. Ich bin nie angekommen, war immer auf der Suche.“ Aber die Arbeit jetzt, die ruhe in sich selbst. „Das schafft für mich selbst auch eine innere Ruhe“, so der Architekt. Diese Ruhe überträgt sich mühelos auf den Betrachter und lässt ihn innehalten. André Lemmens erzeugt Augenblicke lohnenswerter Entschleunigung in turbulenten Zeiten.