17.07.2023

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Degrowth – schrumpfende Architektur?

Nachhaltigkeit
Wenn Wachstum mehr als genug ist. Was ist Degrowth und was bedeutet es für die Architektur? Foto: unsplash/Howard Phillips
Wenn Wachstum mehr als genug ist. Was ist Degrowth und was bedeutet es für die Architektur? Foto: unsplash/Howard Phillips

Degrowth ist ein Konzept, das unser bisheriges Wirtschaften neu denkt. In der Degrowth-Bewegung geht es darum, nicht mehr auf das Dogma Wachstum zu setzen, sondern unseren Überkonsum zu hinterfragen. Hier erklären wir, was genau damit gemeint ist, und welche Auswirkungen Degrowth auf die Architektur haben kann.


Was ist eigentlich das Problem?

Degrowth ist eine Antwort auf die Problematik des extensiven Ressourcenverbrauchs auf der Erde. Dem Ansatz grundlegend ist die Tatsache, dass unsere irdischen Ressourcen nicht unendlich verfügbar sind. Aktuelle Berechnungen, wonach wir global betrachtet 1,75 Erden brauchen, zeigen auf, dass wir nachhaltiger agieren müssen.

Würde jeder Mensch auf der Erde so leben wie die Deutschen, würden wir drei Erden benötigen, um unseren jährlichen Ressourcenverbrauch zu decken. Somit entnehmen wir der Erde jeden Tag aufs Neue mehr Energie, als sie produzieren kann. Das ist problematisch, denn wenn wir diesen Weg weitergehen, wird es abseits von Klimaextremen und Wassermangel bald wichtige Ressourcen nicht mehr geben. Manche von ihnen, wie Erdöl oder Erze, werden quasi überhaupt nicht nachproduziert. Ihr Vorkommen ist also begrenzt.


Endliche Ressourcen

Als Folge des übermäßigen Verbrauchs werden, je nach Berechnung, bereits in wenigen Jahren wichtige Ressourcen aufgebraucht sein. Werden wir weiterhin dieselben Mengen der Erde entnehmen, sind beispielsweise bereits 2030 die Zink-Ressourcen erschöpft. Das Problem ist hier außerdem, dass manche Ressourcen theoretisch zwar in der Erde vorhanden sind, aber noch nicht wirtschaftlich gefördert werden können, weil unser Stand der Technik noch nicht dafür ausreicht.

Viele jener Ressourcen werden zudem für die Batterie- oder Halbleiterherstellung benötigt. Halbleitertechnologie kommt beispielsweise in Computerchips zum Tragen, die auch in Autos und vielen Alltagsgegenständen eingebaut werden. Beide Technologien sind aufgrund der wachsenden Technologisierung aktuell stark gefragt und werden auch in naher Zukunft nicht ersetzbar sein. Wir sind also auf deren nachhaltige und sparsame Nutzung sowie Rezyklierung angewiesen.

Für Chips wie diese werden viele seltene Erden und endliche Ressourcen benötigt. Foto: unsplash/Vishnu Mohanan
Für Chips wie diese werden viele seltene Erden und endliche Ressourcen benötigt. Foto: unsplash/Vishnu Mohanan

Warum Degrowth?

Durch unseren aktuellen Lebenswandel – von der reinen Produktionsgesellschaft hin zu einer digitalen Gesellschaft –und in der Konsequenz der begrenzten Ressourcen müssen wir als globale Gesellschaft Lösungen hin zu einer nachhaltigen Lebensweise finden.

Man kann argumentieren, dass wir als aufgeklärte und hochtechnologisierte Menschen außerdem eine gerechtere und sinnvollere Verteilung des Wohlstands aus moralischen Überlegungen anstreben müssen. Wir benötigen Antworten auf die Fragen, wie wir die ärmeren Teile der Bevölkerung auf ein Mindestmaß an Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Eigenständigkeit heben, und die reicheren Teile der Bevölkerung zu Ressourcen-Sparsamkeit und nachhaltiger Lebensweise bewegen können.

In einer immer größer werdenden Community wird auf professioneller fachlicher Ebene über das Thema Degrowth diskutiert. Dass dabei immer wieder falsche Information über das Konzept Degrowth in den breitenwirksamen Medien auftauchen, lässt sich leider auch nicht vermeiden. Marcus Feldthus forscht seit langem an Degrowth und hat in folgendem Linkedin-Posting eine gute Übersicht zusammengestellt, die auf die Kernaspekte und deren Implikationen für die Weltwirtschaft eingeht:

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von www.linkedin.com zu laden.

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Die Sache mit dem Wohlstand – für alle

Degrowth bedeutet übersetzt soviel wie Wachstumsrücknahme. Damit ist gemeint, dass wir uns vom Ziel des kontinuierlichen Wachstums in allen Lebenslagen verabschieden. Denn Wachstum, zum Beispiel in Form von mehr Mitarbeiterinnen, mehr Umsatz, mehr Filialen, größeren Bauwerken und immer mehr Gewinn, ist nicht mehr automatisch der Garant für mehr Wohlstand und Sicherheit. Durch die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung von vormals arbeits- und zeitintensiven Tätigkeiten, müssen wir uns neue Konzepte der Beschäftigung und neue Formen von Bezahlung oder Grundeinkommen überlegen. Denn obwohl wir mehr Reichtum besitzen, ist dieser  auch in Europa ungleich unter den Menschen verteilt.

Die Arbeitswelt, wie wir sie heute noch kennen, wird in wenigen Jahrzehnten ganz anders aussehen. Bereits jetzt gibt es Pilotprojekte von Supermärkten, die ohne Kassen auskommen. Selbstfahrende Fahrzeuge könnten nicht nur Busfahrer, sondern auch Lkw-Fahrer ersetzen. Die Liste ist beinahe endlos fortzusetzen und jeden Tag kommen neue Automatisierungsideen hinzu.

Degrowth lässt uns automatisch auch darüber nachdenken, wie wir Dinge wie Wohlstand überhaupt definiert haben – und stattdessen definieren sollten. Dabei gibt viele Nuancen von Degrowth. Es ist keine zentral gesteuerte, kohärente Bewegung. Auch einige Architektur- und Designbüros haben sich dem Konzept verschrieben, so wie beispielsweise das dänische EFFEKT Research and Design Studio. Dazu später mehr.


Konkreten Maßnahmen statt Horrorszenarien

Aus den Biografien unserer Eltern und Großeltern sind wir in dem Glauben aufgewachsen, dass wir ganz natürlich in eine bestimmte Richtung streben. Diese Richtung bedeutete mehr Wohlstand und mehr Jobsicherheit. Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs zeigten die Wirtschaftszahlen kontinuierlich nach oben. Was jedoch damit einhergeht ist ein Anstieg der Treibhausgase, der Umweltverschmutzung, des Artensterbens und der globalen Temperatur. Außerdem befinden sich viele Schwellenländer in der Situation, den westlichen Lebensstil nachahmen zu wollen, den wir über Jahrzehnte unnachhaltig genossen haben.

Nun wird uns aber durch die Klimakrise eindrucksvoll bewusst, dass sich der Planet unseren Lebensstil gar nicht leisten kann. Zum ersten Mal in der Geschichte der jüngeren Menschheit stehen wir an einer Wand und wissen, dass wir so nicht mehr weiter kommen. Und das, obwohl bereits vor fünfzig Jahren der Club of Rome auf das Wachstumsproblem hingewiesen hat. Das Gedankenspiel, dass wir in wenigen Jahren einen schwer, und in wenigen Jahrzehnten einen in vielen Teilen unbewohnbaren Planeten vorfinden, ist für viele von uns schlicht unvorstellbar. (In der aktuellen topos-Ausgabe geht es übrigens genau um dieses Thema.) Umso besser ist es, wenn wir uns weniger auf die negativen Konsequenzen, sondern mehr auf die konkreten Maßnahmen zur Vermeidung dieser Horrorszenarien konzentrieren.


Auswege aus der Krise

Wir sind keinesfalls hilflos der Klimakrise ausgeliefert. Viele verschiedene Forschungsbereiche ergründen konkret Lösungsansätze und Maßnahmen, mit denen wir als internationale Gesellschaft die Folgen der Klimakrise abschwächen können. Manche Maßnahmen betreffen jeden einzelnen von uns, aber die meisten betreffen Staaten als Wirtschaftssysteme und die oberen Perzentilen der einkommensstärksten Gesellschaftsschichten.

Denn es zeigt sich, dass finanzschwächere Schichten und Nationen überproportional weniger zum Klimawandel beitragen, als wohlhabendere. Dadurch wurden Begriffe wie Globaler Norden und Globaler Süden im Fachdiskurs etabliert, um diese regionalen Unterschiede möglichst wertfrei besprechen zu können. Die Unterschiede liegen zum einen am Konsum, der nur eingeschränkt möglich ist. Zum anderen liegt das aber am allgemeinen Lebensstil. Ärmere Menschen können sich kein Auto oder häufige Flugreisen leisten. Und sie verarbeiten als Gesellschaft auch weniger Beton, was uns direkt zur Architektur als Emissionsschleuder bringt.

Ein schlichter Lebensstil trägt weniger zur Klimakrise bei. Foto: unsplash/Ninno Jack Jr.
Ein schlichter Lebensstil trägt weniger zur Klimakrise bei. Foto: unsplash/Ninno Jack Jr.

Was können wir unternehmen?

Es gibt kleinere und größere Maßnahmen, die zu einer Wachstumsreduktion beitragen und somit die Ressourcen und das Klima unseres Planeten schonen können. Kasper Benjamin Reimer Bjørkskov, Leiter für Innovation vom EFFEKT Studio hat folgendes hier zusammengefasst:

  • Durch weniger und dafür bedachteren Konsum können wir den Energieverbrauch, die Emissionen und den Müll verringern.
  • Mit Steuern auf umweltschädliches Verhalten kann die Industrie zu einer nachhaltigeren Produktionsweise gelenkt werden.
  • Andere Produkte können verboten werden, wie zum Beispiel Einwegplastikutensilien für den einmaligen Gebrauch.
  • Die Werbeindustrie kann beschränkt werden mit dem Ziel eines faireren Wettbewerbs sowie weniger Müllproduktion.
  • Mit Strafen gegen geplante Obsoleszenz sowie Förderung von zirkulärer Wirtschaft (also dem Anspruch, dass Materialien und Ressourcen wiederverwendet werden) kann in den Markt eingegriffen werden.
  • Einschränkungen bei der Vergabe von Konsumkrediten lenkt den Fokus ebenso weg von kurzlebigen Trends und verringert Ressourcenverschwendung.
  • Global geltende Steuern, Schuldenerlässe und Dekolonisation sorgen für eine fairere und gleichmäßigere Verteilung von Wohlstand und Reichtum.
  • Mit der Reduktion von Quantitativer Lockerung (Quantitative Easing, QE), also dem Ankauf von Vermögenswerten durch die Zentralbanken, wird das Wirtschaftswachstum gehemmt, was sich positiv auf Konsummengen und Energieverbrauch auswirkt.
  • Zu guter Letzt muss die Wirtschaft im Allgemeinen in ihrer Struktur angepasst werden, um den Werten der Postwachstumsgesellschaft und somit den physischen Grenzen unserer Erde zu entsprechen.

All diese Maßnahmen betreffen in erster Linie den Globalen Norden, und seinen verschwenderischen und intensiven Umgang mit endlichen Ressourcen. Die Auswirkungen dieses Verhaltens trägt zu einem überproportionalen Teil der Globale Süden, der wirtschaftlich und gesellschaftlich von unseren Entscheidungen abhängig ist.

Und wer bei den Worten Verbot und Verzicht skeptisch wird, kann in diesem Buch von Philipp Lepenies genauer nachlesen, was es mit damit auf sich hat und warum es wenig Grund zu Beunruhigung gibt.


In welchen Bereichen betrifft es Architektur?

Architektur als gebauter Raum trägt auf vielerlei Arten zur Klimakrise bei. Durch die Verwendung von erdölbasierten Materialien schlägt das Bauwesen beim Ressourcenverbrauch stark ins Gewicht. Bei der Herstellung von Beton wird dabei das meiste CO2 produziert, das in die Atmosphäre gelangt und zur Erderwärmung beiträgt.

Durch die anhaltende Flächenversiegelung (Österreich ist übrigens Spitzenreiter mit 11,3 Hektar pro Tag) gelangt Wasser nicht mehr in den Grund und steht dort nicht mehr als Speicherbecken zur Verfügung. Stattdessen wird das Wasser ins Abwasser eingeleitet, wo es das Kanalsystem bei häufigeren, klimawandel-induzierten Starkregenereignissen überfordern kann. Auch das CO2-Speichervolumen des Bodens wird dadurch verringert.

In diesem Video werden die Probleme mit der Bodenversiegelung erklärt:


Wie sieht Degrowth-Architektur aus?

In erster Linie bedeutet Degrowth in der Architektur ein prinzipielles Hinterfragen von Bauaufgaben. Muss überhaupt gebaut werden? Gibt es vielleicht ein Bestandsgebäude, das genutzt, umgenutzt, adaptiert oder saniert werden kann? Bauen in Zukunft wird stark durch Nicht-Bauen definiert werden. Hierzu gibt es auch die Forderung eines Abriss-Moratoriums, also einen temporären Abriss-Stopp zu erwirken. Dies soll die Wertschätzung für den Bestand fördern und anregen, grundsätzlich die gedankenlose Abriss-Praxis zu hinterfragen.

Auch der Umgang mit Bauschutt muss sich ändern. Zirkuläres Bauen und die Wiederverwendung von Rohstoffen und Bauteilen tragen zur Schonung von Ressourcen bei. Primär sollen jene Materialien eingesetzt werden, die leichter rezykliert oder nach ihrem Ableben am Bau anderweitig weiterverwendet werden können. Dämmungen aus Erdöl, die nicht wiederverwendet werden können, wie sie aber jetzt noch Usus sind, sollen weitestgehend verschwinden.

Zu einer Architektur, die nicht auf ein Mehr abzielt, gehört aber auch die Vermeidung von Bodenversiegelung. Ein großer Faktor dabei ist die Asphaltierung für den Autoverkehr. Durch urbanes Bauen und Nachverdichtung wird weniger Fläche versiegelt als durch lockere Bauweise am Land. Ebenso sind anteilsmäßig mehr Flächen für nachhaltige Lebensführung und Fortbewegung einzuplanen anstelle von Tiefgaragen und Autoabstellplätzen.

Grundrisse sollen verschiedensten Ansprüchen gerecht werden und nicht nur den kurzzeitigen Bedarf der eigentlichen Bauaufgabe widerspiegeln. Wenn ein Hochhaus im Kerngebiet nicht mehr als Bürofläche gebraucht wird, können später attraktive Wohnungen entstehen oder andere Nutzungen untergebracht werden. Diese Flexibilität hat auch Auswirkungen auf die Bauordnung, wenn beispielsweise Balkone eigentlich verboten sind, für qualitativen Wohnraum jedoch zuträglich wären.

Diese Beispiele zeigen auch, dass Degrowth-Architektur jedenfalls ein Konzept ist, das mehr ist als bloßes Bauen. Es verlangt einen erweiterten Architekturbegriff, der sowohl das bereits Gebaute, als auch die Phasen vom Abbau über die Herstellung bis hin zur Wiederverwertung der Baumaterialien miteinschließt. Für nachhaltiges Bauen sind Veränderungen, nicht nur, aber auch in der Bauordnung, in der Infrastruktur, in der Regionalplanung nötig.


Das Ziel: Ein zukunftsfähiges gutes Leben auf der Erde

Die Art, wie wir bisher und aktuell mit Ressourcen umgehen, ist weder gut für uns Menschen, noch für den Planeten. Wir brauchen Regulatorien, Gesetze und internationale Zusammenarbeit, um gemeinsam einen neuen Weg einzuschlagen hin zu einer weiterentwickelten Gesellschaft. Degrowth kann eine Lösung sein, wie wir dieses Ziel erreichen.

Hier gibt es übrigens einen SBT-Leitfaden (Science based Target) für Architekten und Ingenieurinnen. Er gibt Aufschluss darüber, welche möglichen CO2-Ersparnisse sowohl beim Bauen als auch bei der Nutzungsdauer liegen. Außerdem enthält er Informationen darüber, wie eine Reduktion klimaschädlicher Materialien und Emissionen gelingen kann.

Apropos nachhaltig: Den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2023 haben Grüntuch Ernst Architekten mit dem Hotel Wilhelmina gewonnen.

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