Berggorilla oder Spitzmaulnashorn
Der Kulturgeograph und Alpenforscher Werner Bätzing hat ein Buch über das Landleben geschrieben. Für ihn ist es eine gefährdete Lebensform, die es zu bewahren gilt. Mit seiner kritischen und umfangreichen historischen Analyse will er seinen Lesern einen neuen Blick auf das Landleben ermöglichen. Denn – und das ist eine seiner zentralen Thesen – wir alle schenken ländlichen Räumen im Zeitalter der Verstädterung zu wenig Beachtung. Und wenn doch, dann ist das Bild, das wir vom Landleben haben, oftmals ein völlig falsches.
Was ist Landleben? Leerstehende, schrumpfende Dörfer mit ein paar übriggebliebenen Alten? Busse, die nicht mehr fahren, Läden, die nicht mehr öffnen, Schulen, die keine Schüler mehr haben, Häuser, denen die Bewohner abhandenkommen? Hier findet alles andere aber keine Zukunft statt…
Oder nehmen wir doch lieber das andere Bild, das Bild der Hochglanzmagazine Landlust oder Landleben. Hier gibt es blühende Wiesen, traditionelle Architekturen, eingekochte Quitten vom Nachbarn, Bioläden und den Hofmetzger ums Eck, vielleicht noch die Sonntagstracht und junge Familien, die dem hektischen Stadttreiben entfliehen und ihr Business jetzt bei schneller Internetverbindung mit Blick auf Feld und Weide aufziehen …
Welches Bild ist denn nun das richtige? Der emeritierte Professor für Kulturgeographie und Alpenforscher Werner Bätzing hat eine eindeutige Antwort: Keines. Mit seinem neuen Buch Das Landleben – Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform hat sich Bätzing an ein Thema gewagt, das längst überfällig schien und das die Politik seiner Meinung nach viel zu spät auf die Tagesordnung gebracht habe: das Landleben.
Bereits Anfang der 2000er sprach man in politischen Kreisen im Zusammenhang mit der demographischen Schrumpfung nur von alternativlosen Maßnahmen wie Entsiedelung, SchließungSchließung: Bezeichnet alle technischen Vorkehrungen zum Schließen und Verriegeln von Türen oder Fenstern, Rückbau. Das hat laut Bätzing zur Verbitterung der Landbewohner geführt, die bis heute anhält und sich auch in den Wahlerfolgen der AfD niederschlägt. Für Bätzing ist das Land in einer Abwertungsspirale gefangen – mit etwaigen Ausreißern der Aufwertung auf dem Zeitstrahl der Geschichte – und das Landleben eine gefährdete Lebensform. Wäre es ein Tier, so würde es wohl dem Status des Berggorillas oder des Spitzmaulnashorns entsprechen.
Von der Entstehung bis zur Leitidee
Somit ist es höchste Zeit, sich mit dem Land zu beschäftigen. Nicht nur im Hinblick auf die eigenen Probleme, wie Abwanderung, Überalterung, geringe Wirtschaftsleistung, fehlende Versorgung und Mobilität sowie wenig lebenswerte Siedlungsstrukturen, sondern auch im Hinblick auf die Herausforderungen, die die Urbanisierung mit sich bringt und Städte als Lebensräume an ihre Grenzen stoßen lässt.
Bätzing widmet sich bereits seit den 1990er Jahren dem Forschungsgegenstand Ländliche Räume und bietet dem Leser mit dem im C.H. Beck Verlag erschienenen Buch nichts Geringeres als eine kritische, umfangreiche, dicht erzählte und im wissenschaftlichen Duktus aufbereitete Geschichte des Landlebens. Sie beginnt mit der Entstehung der Landwirtschaft und der Sesshaftwerdung des Menschen zwischen 10.000 und 5.000 v. Chr. und endet mit der Formulierung von Leitideen für die Aufwertung und Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume.
Stadt und Land zusammen denken
Große Fragen umtreiben Bätzing dabei: Gibt es heute noch ein Leben auf dem Land, das nicht städtisch geprägt ist? Brauchen wir in der modernen Welt überhaupt das Landleben? Oder ist es nur noch ein romantisches Relikt aus vergangenen Zeiten? Wer das Landleben verstehen will, so der Autor, muss Landwirtschaft, bäuerliche Kulturlandschaften, Dorfleben, Traditionen sowie die engen Verflechtungen zwischen ihnen kennen. Und: Man muss Stadt und Land als gleichwertig ansehen, zusammen denken. Das eine geht nicht ohne das andere. Sie ergänzen sich wechselseitig und ermöglichen nur gemeinsam ein gutes Leben.
Bätzing unterscheidet – und das ist auch eine Stärke des Buches – zwischen unterschiedlichen ländlichen Räumen. Denn Land ist nicht gleich Land. Es gibt ländliche Räume in der Nähe von Agglomerationen, ländliche Räume mit positiver Wirtschaftsentwicklung und ländliche Räume mit Wirtschafts- und Strukturproblemen. Und für all diese Räume braucht es unterschiedliche Ideen und Ansätze. Inhaltlich liegt der Fokus eindeutig auf dem Landleben in Deutschland – hier hätte man als interessierter Leser sicherlich einen Blick über die Grenzen hinweg wertgeschätzt.
Einfache Rechnung
Dennoch: Werner Bätzings Buch ist äußerst lesenswert, eine kritische Analyse, wenn auch keine vollständige. Aber das kann und will das Buch auch nicht leisten. Dazu fehlt letztendlich auch die globale Perspektive. Das Buch ist als Appell zu verstehen, eine bedeutende Lebensform zu bewahren und einen realistischen und weniger verklärten und vorurteilsbeladenen Blick auf das Land zu entwickeln. Letztendlich geht es Bätzing auch um die Erkenntnis, dass es ohne das Landleben auch kein Leben in der Stadt geben kann. Und diese Rechnung ist am Ende doch ziemlich einfach.
Das Landleben – Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform
Autor: Werner Bätzing
Verlag: C.H. Beck
302 Seiten
ISBN 978-3-406-74825-7
Erschienen am 23. Januar 2020
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