19.12.2019

Event

Günter Günschel – geodätische Visionen à la Piranesi


Intim verschachtelte Raumkörper

Die Architekturbiennale in Orléans hat dieses Jahr ein besonderes Kernstück: Die Ausstellung “Homo Faber” ist dem deutschen Zeichner und Architekten Günter Günschel gewidmet. Dessen außergewöhnlichen mitunter düsteren Zeichnungen vermitteln einen Ausdruck von Angst und zeigen verzehrende Strukturen. Die Ausstellung läuft noch bist zum 19. Januar.

Große Aufmerksamkeit für einen deutschen Architekten im französischen Orléans! Kernstück der zweiten Architekturbiennale* in der Stadt an der Loire ist die Ausstellung „Homo Faber“, die bis zum 19. Januar 2020 im FRAC Centre**, dem Museum für zeitgenössische Kunst der französischen Region Centre-Val de Loire, gezeigt wird. Die Ausstellung ist dem wenig bekannten Zeichner und Architekten Günter Günschel gewidmet. „Sein Werk ist eher untypisch und umfasst zudem theoretische Reflexionen, die in Bildern und Zeichnungen ausgedrückt sind“, sagt Cornelia Escher, Kuratorin der ersten Retrospektive über Günschel seit dessen Tod im Jahr 2008.

Anlass für die Ausstellung war die Schenkung seines graphischen Werks an eine französische Institution. Gezeigt werden beeindruckende Kompositionen, Städte und kleinere Siedlungen, die von eher unwahrscheinlich anmutenden geodätischen Kuppeln beherrscht werden. Günther Günschel als geistiger Sohn des Visionärs Buckminster Fuller? Möglicherweise. Aber vielleicht besteht eine geistige Verwandtschaft auch mit einer anderen vergessenen Figur der Architekturgeschichte, dem Ingenieur Walther Bauersfeld, Landsmann von Günschel und Erbauer der ersten geodätischen Kuppel, die 1926 für das Zeiss-Planetarium in Jena entstand.

Ungeachtet seiner außergewöhnlichen Zeichnungen war Günschel zugleich ein Praktiker, der fest in der architektonischen Realität seiner Zeit verankert war. 1957 entwarf er für die Interbau in Berlin zusammen mit Karl Otto und Frei Otto den innovativen temporären Pavillon der Sonderausstellung „die stadt von morgen“, der sich mit einer weitgespannten, aus einem Raumgitter bestehenden Dachkonstruktion geschickt zwischen die Bäume des Tiergartens einfügte. Für so manchen Beobachter wurde hier eine Zukunft imposanter Megastrukturen erkennbar, wie sie zum Beispiel der Generation der japanischen Metabolisten vorschwebte. Auch in Frankreich wurde der Bau wahrgenommen und beflügelte die Hoffnungen naiver Träumer, die sich schon von den utopistischen Ideen Yona Friedmans hatten mitreißen lassen.

Insbesondere das gezeichnete Werk Günschels hat jedoch auch eine dunkle Seite, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Die düsteren Züge seiner Bilder vermitteln einen Ausdruck von Angst und die Strukturen, die sie zeigen, wirken verzehrend. In den Skizzen formuliert sich alsbald eine gesellschaftliche Kritik: „Dem Architekten sind in dem, was er erreichen kann, Grenzen gesetzt und das Individuum erscheint schnell der Vergessenheit anheim gegeben“, sagt Cornelia Escher. In der Konsequenz entwickelte Günter Günschel von den 1960er Jahren an piranesianische „capricci“, wie er sie nannte, Kompositionen, die „Industrien“ veranschaulichten oder „Büros“, aber auch „geodätische Höhlen“, die architektonisch ehrgeizige Konstruktionen mit intim verschachtelten Raumkörpern verbanden. Das Schauspiel, das diese Zeichnungen vermitteln, schwankt zwischen Schrecken und Faszination.

Absolutes Muss

Die Architekturbiennale von Orléans hat den besonderen Moment des Erwerbs einer außergewöhnlichen Sammlung dazu genutzt, neues Licht auf eine vergessene Größe der Architekturgeschichte zu werfen. Unter den wichtigen Ereignissen im Kalender der Architektur ist diese Ausstellung ein absolutes Muss!

* Die zweite Architekturbiennale findet unter dem Titel „Nos Années de Solitude“ (Unsere Jahre der Einsamkeit) vom 11. Oktober 2019 bis zum 19. Januar 2020 in Orléans statt. Die Kuratoren der Biennale sind Abdelkader Damani und Luca Galofaro.
**Fonds Régional d’Art Contemporain

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