26.03.2019

Wohnen

Aus der Echtwelt 5

Drei Monate später kommen diese Worte erneut aus dem Untergrund. Während im Obergrund, der guten alten Echtwelt, die Zeiten für Vernunft, Humor und Feinsinn im Allgemeinen und folglich für Architektur im Besonderen immer noch schlecht stehen, ist der Untergrund eine wohlige Welt der Ästhetik. Hier lebt es sich weiterhin im Geiste der Aufklärung, ich bin hier immer noch emanzipiert und mündig, also frei.

Meine liebsten Untergründe Hardboiled Wonderland, Helheim, Brusel, Alices Wunderland, Hölle, Upside down und Hades sind immer Spiegelungen der Welt – es scheint keinen unbezüglichen, nicht referenziellen Untergrund zu geben. Der Untergrund ist zumeist Dystopie, manchmal Utopie.

Mein einfacher Wunsch, der Untergrund möge besser sein als die Echtwelt, ist Negation; der Untergrund ist erst einmal „alles nicht“.

Dabei ist doch meine Hoffnung, dass die ganze Verrohung, die ganze Dummheit und der ganze Ärger verschwinden möge. Ein kleiner Rückzug einer Architektin, eine Einsiedelei im Zentrum einer Stadt im Zentrum Europas, ohne Internet, ohne Paketdienste, ohne Licht, ohne Fleisch und ohne CO2-Verbrauch, kein Bezug zur Welt; aber auch im Untergrund ist die Echtwelt allgegenwärtig. Denn es dauert, bis ich das Hier nicht der Einfachheit halber immer in der Negation beschreibe, sondern es ein eigener Zusammenhang wird. Deshalb bleibt der Titel der Kolumne auch weiterhin der der Echtwelt.

Ich frage mich schon, wie lange ich das noch so aushalte, wann der Untergrund etwas Eigenständiges wird. Unten ohne oben zu denken, unten nur im Unten zu denken.

Ein Jahr kann lang sein, auch wenn es nur vier Kolumnen sind, sind es doch 365 Tage, etwa 11.000 nicht empfangene Push-Nachrichten, ungefähr 30.000 nicht gelesene Emails (ohne Spam), 300 fehlende Zeitungen, etwa 200 nicht gesehene Netflix-Folgen und circa kein halbes Bauvorhaben und keine sieben Wettbewerbe oder unrealisierte Projekte später. In der Echtwelt nennt es sich Dunkelretreat und währt maximal 24 Tage.

Stattdessen alles im Kopf, alles im Möglichkeitsraum. Hier hilft nur Imagination, eine Vorstellung des Raumes, reine Weltvorstellung. Aber der Entwurf einer Welt ohne den Entwurf und die Welt zu sehen, ist gar nicht so einfach. Aber einfacher als in der Echtwelt, in der es immer mehr gibt als mich. Hier redet niemand mit, hier im Dunklen, allein, kann ich endlich entwerfen und dann eine ganze Welt.

Es hilft, dass ich noch in der Echtwelt ein Handbuch dazu gelesen habe: Nicht-referenzielle Architektur von Valerio Olgiati und Markus Breitscheid, Basel, 2018, das genau diesen Zustand, eine Welt ohne Bezüge, als Grundlage der Architektur voraussetzt.

So sitze ich hier und warte, dass sich alle Referenzen und Spiegelungen verflüchtigen und nur noch ich übrig bleibe (übergeordnete Regel der nicht-referenziellen Architektur: Autorenschaft, im wörtlichen Sinne ohne *innen zu verstehen) und versuche die sieben Prinzipien der nicht-referenziellen Architektur zu beherzigen: Raumerfahrung, Ganzheit, Neuheit, Konstruktion, Widerspruch, Ordnung und Sinnstiftung. Das hat weniger mit den sieben Leuchtern Ruskins als mit der „Five Point Palm Exploding Heart Technique“ aus „Kill Bill“ zu tun, richtig angewandt implodiert die Welt, Architektur brennt.

So arbeite ich alleine, lang oder sehr kurz, ohne Raum-Zeitgefühl in Dunkelheit an der Raumerfahrung. Ich zähle meine Schritte, mache große, kleine, unterschiedliche, „silly“ und „moon walks“, lausche in die Stille, rieche am Geruchslosen und schmecke die leere Luft. Der Raum fühlt sich schon gut an. Die Ganzheit ist hier fraglos, nichts stört die reine Idee. Im Entwurf der Welt ist ohnehin alles neu, und Ordnung konnte ich schon oben. Der Widerspruch gelingt mühelos, denn ich bin ja schon mehrere und versuche in allen Persönlichkeiten bei der Sinnstiftung weder an Steiner noch an Scientology zu denken.

Aber es klappt nicht, Bill stirbt nicht und die Architektur glüht noch nicht einmal.

Diese Kolumne stammt aus der Märzausgabe 2019. Neugierig geworden? Hier gehts zum Shop.

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