02.05.2019

Wohnen

Unter Spannung: Ressource Zukunft

Architektur ist ein Abenteuer, um die Welt von heute, auf der Basis der Welt von morgen zu gestalten. Die Vorstellung der Zukunft formt also unser Bild der Gegenwart. Das mag zunächst paradox klingen, ähnelt der Prozess der architektonischen Wissensproduktion häufig nicht einer Rationalitätskultur, sondern eher einer Erfahrungswissenschaft, bei der die Reflexion des bereits Erlebten im Vordergrund steht. Gewiss, Zukunft ist keinesfalls nur eine Frage der Technik — aber in vielerlei Hinsicht eben doch. Das mag auch ein Grund dafür sein, dass Diskussionen um die Zukunft nicht nur von Sehnsüchten und Ängsten, sondern in erster Linie von emotionalen Kontroversen und hitzigen Debatten geprägt sind. Dergesellschaftliche Raum scheint eben doch viel zu technisch, als dass er nur sozial verstanden kann, ebenso wie auch der technische Raum viel zu gesellschaftlich ist, als dass er nur technisch verstanden werden kann. Technische Fragstellungen implizieren also immer auch gesellschaftliche Fragestellungen – und umgekehrt. Tatsächlich lässt sich dasTechnische, mit dem wir alltäglich operieren immer schwieriger beschreiben und definieren. Wir haben es also mit einer immer grösser werdenden Unbestimmbarkeit des Technischen selbst zu tun. Unbestimmbarkeit denken zu können, setzt einen Perspektivwechsel voraus. Statt einmal mehr nach dem „Wesen“ der Dinge zu fragen, ließe sich Technik kontrafaktisch vorstellen, das heisst wie Technik sein kann oder sein soll. Für einen so verstandenen Technikbegriff würde damit das gelten, was wir häufig dem Kunstbegriff zusprechen: Dass der Umstand, wie wir uns Kunstwerke vorstellen, von vornherein keine Seins-, sondern eine Sollensfrage ist – also ein durch Reflexion und Erfahrung mit Werken der Kunst gewonnenes Urteil. So betrachtet, könnte auch Technik als ein Reflexionsbegriff betrachtet werden, bei dem es nicht mehr darum geht, einem bestimmten Gegenstandbereich, beispielsweise eine Maschine oder einen Apparat zu definieren und zu bestimmen. Vielmehr könnten die Erfahrungen mit dem Technischen als eine Anregung dienen, immer wieder neue Fragenstellungen für die Architektur zu entwickeln.

Offen bleibt dabei die Frage, von welchem Wissensbegriff wir hierbei ausgehen können, welche sozialen Modelle und politischen Paradigmen sich hieraus ergeben werden. Es geht nicht mehr um das Aufbrechen einer intellektuell verkrusteten und im Kernschatten der Nationalsozialismus stehenden Gesellschaft, wie sie noch zur Mitte des letzten Jahrhunderts existierte, in einer Zeit, in der sich der Architekt als romantischer Revolutionär inszenieren konnte und wohl auch musste. Es geht heute auch nicht mehr um die bewusste Verschmelzung von Ästhetik und Leben, wie es von den künstlerischen Avantgardebewegungen so vehement eingefordert wurde. Vielmehr scheint es, als würde die Entwicklung eines politischen Koordinatensystems zur Debatte stehen, dessen Dynamiken das soziale Wertesystem unserer gesamten Gesellschaft verändern. Inmitten dieser von Erosionsprozessen gekennzeichneten Situation, lässt sich eine Tendenz zur einem kleingeistigen, anti-intellektuellen Politikstil beobachten, in der die diskursive und schöpferische Gestaltungsmacht der politischen Praxis dabei ist, entweder durch einen verwaltungstechnischen Modus der nüchternen Problemreduzierung ersetzt oder durch blanken Populismus zerfressen zu werden. Es ist eine knifflige, doch keineswegs aussichtslose Situation. Der französische Philosoph Cornelius Castoriadis behauptet in Gesellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie,dass „keine andere Kategorie, als die des Imaginären, ein Nachdenken über die Idee der Gesellschaft erlaube.“ Eine sympathische und kluge Behauptung, bringt sie doch auf den Punkt, warum es geht: dass wir in der Architektur unentwegt auf der Suche nach neuen Modellen des Zusammenlebens und der Gemeinschaft sind — sozial, politisch, ästhetisch, technisch. Es ist eine endliche Suche nach etwas, das wir nicht kennen und das zugleich unserekostbarste Ressource ist: die Zukunft. Anstatt sich also hinter einer wie auch immer definierten Vorstellung von Autonomie zu verstecken, sich in verführerischen Technikphobien und gar rückwärtsgewandten Retroarchitekturen zu flüchten, könnte wir versuchen, uns über das Imaginäre wieder einen Zugang zu unserer eigenen Zukunft zu erarbeiten.

Diese Kolumne stammt aus der Aprilausgabe 2019 zum Thema Bauhaus. Neugierig geworden? Hier gehts zum Shop.

 

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