Vor einem Jahr veröffentlichte der JOVIS Verlag mit Schwarzer Rolli, Hornbrille eine scharfe Analyse der Architekturbranche von Architektin Karin Hartmann. Grund genug, das Buch erneut zur Hand zu nehmen und sich darüber aufzuregen. Eine persönliche Annäherung.
Das ist kein „Frauen-Buch“
Dieses Buch ist schrecklich, ich hasse es. Ich ziehe es eigentlich vor, in einer Welt zu leben, in der dieses Buch unnötig gewesen wäre. Sein Inhalt agitiert mich zu weiten Teilen.
Karin Hartmann schreibt sich in bekömmlich dimensionierten Absätzen (ganz dem Zeitgeist entsprechend) Stakkato-artig an der ignoranten Geschichte und Gegenwart der Architektur ab. Sie tut dies nicht für Frauen. Das ist kein „Frauen-Buch“. Sie tut es für eine bessere Architekturpraxis und Architekturlehre. Für bessere Städte und ein besseres Zusammenleben. Der unübliche, aber fesche Flattersatz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei dem Thema rein gar nichts flattert. Außer wahrscheinlich ein Pulsmessgerät, das beim Lesen angeschlossen wäre.
Wir könnten doch baumeistern
Das Thema ist todernst. Seine Umfänglichkeit wird eindrücklich greifbar, wenn es um Einfamilienhausgrundrisse und verschollene Biografien geht, wenn die Wettbewerbskultur genauso angesprochen wird wie die Lehre an den Universitäten oder die Rolle von androzentrischen Fachmedien quasi als potenzieller „Lautsprecher“ für den progressiven Diskurs (I’m looking at you, BAUMEISTER! Es wäre ein Einfaches, durch ein angehängtes N beispielsweise das männliche Nomen zu einem alle inkludierenden, zukunftsgewandten Verb zu erweitern: Baumeistern). Ein Glossar liegt übrigens auch bei. Der könnte durchaus umfangreicher und nachvollziehbarer ausfallen, besonders für jene Leser und Leserinnen, die noch nicht so bewandert sind im Dickicht dieser sprachlich anspruchsvollen Debatte.
Einer der wichtigsten Begriffe im Kontext von Schwarzer Rolli, Hornbrille ist sicherlich Intersektionalität:
„Das Konzept der Intersektionalität beschreibt die Arten und Weisen, in denen Systeme der Ungleichheit, die auf Gender, race, sexueller Orientierung, Genderidentität, Beeinträchtigungen, Klasse und andere Formen der Diskriminierung beruhen, sich ‚überschneiden‘, sodass spezifische Dynamiken und Auswirkungen entstehen. […] Alle Formen der Ungleichheit verstärken sich gegenseitig und müssen deshalb gleichzeitig untersucht und in Angriff genommen werden, um zu vermeiden, dass eine Art der Ungleichheit eine andere verstärkt.“ (Center for Intersectional Justice, zit. n. Hartmann)
Genauso wie feministische Architektur eigentlich eine Architektur für alle bedeutet, ist der Begriff eng verbunden mit dem der Baukultur. Im folgenden Video vom Verein Archijeunes wird spielend einfach erklärt, was Baukultur für alle meint:
Page-turner des Grauens
Auch jene unter uns Architekturschaffenden, die sich bereits mit dem Thema Gleichberechtigung bzw. Frauen in der Architektur beschäftigt haben, finden in diesem kompakten, fadengebundenen Buch genug Denkanstöße, um ihre Wut und ihre Motivation gleichermaßen zu füttern, um daran arbeiten zu können dieses Buch für zukünftige Generationen obsolet zu machen.
Schwarzer Rolli, Hornbrille ist ein fundiertes Kompendium jener Dinge, an denen es krankt in unserem zeitgenössischen Verständnis darüber, was Architektur ist, wer sie macht und wer darüber redet. Verdiente Erwähnung findet auch das WIA (Women in Architecture) Berlin Festival, das selbst kürzlich eine Publikation veröffentlichte. Das Buch hat die gesammelten Beiträge des WIA Festivals 2022 zum Inhalt, in dem die Position der Frau in der Branche näher beleuchtet wird. Es bleibt aber, genauso wie im Buch von Karin Hartmann, nicht beim Analysieren des Problems. Aufgrund der Praxisnähe sind hier viele konkrete Lösungsansätze zusammengetragen, die bereits erprobt werden und zu einer veränderten Debatten- und Baukultur führen sollen. Eine ausführliche Rezension darüber erschien in der G+L Feministische Stadtplanung, hier online zu lesen.
Karin Hartmanns Schwarzer Rolli, Hornbrille jedenfalls ist ein page-turner des Grauens, gespeist aus Geschichten so surreal, dass sie nur der Realität entspringen konnten und man wünschte sich, es wäre alles nicht wahr. Die Lektüre ist kurzweilig und – zynisch gesagt – unterhaltsam, hallt dafür aber umso länger nach. Gut so.
Nach Schwarzer Rolli, Hornbrille empfehle ich mindestens ein Entspannungsbad oder eine Revolution.
Das Buch ist im Jovis Verlag GmbH erschienen, auf Deutsch und Englisch verfügbar und dies ist eine ausdrückliche Leseempfehlung. (Für alle!)