Kulturinteressierte Europas kennen Rotterdam als die Architekturhauptstadt der Niederlande. Unter den Niederländern selber ist die Stadt allerdings eher als „hässliche Arbeiterstadt“ verpönt. Amsterdam hingegen gilt als schick und seine wunderschönen Altstadt zieht massenhaft Touristen aus aller Welt an. Unsere Baumeister Academy Gewinnerin erzählt uns, wieso Rotterdam charmanter ist als man denkt.
Teures Amsterdam
Ich habe selbst drei Monate lang in Amsterdam gewohnt und die Kulisse und den „Dutch Lifestyle“ sehr genossen. Allerdings überfüllen Touristen die Innenstadt so sehr, dass sogar das Radfahren zur Nervensache wird. Da ist Rotterdam, dessen Altstadt im zweiten Weltkrieg stark zerbombt wurde, mit seinen breiten Straßen deutlich entspannter. Rotterdam ist fast eine Erleichterung nach all den niedlichen typisch niederländischen Backsteinhäusern und Kanälen. Es ist die einzige Stadt in den Niederlanden, die wirklich mal anders ist. Die Stadt ist authentisch, mit all ihren Ecken und Kanten, die sie besonders machen. Es herrscht eine konstante Veränderung, mit viel Potenzial zur Entwicklung, vor allem rund um die alten Hafengebiete und in der Innenstadt. Spätestens seit dem Bau der ikonischen Erasmusbrücke, die den südlichen Teil der Stadt mit der eigentlichen Innenstadt verbindet. Inzwischen ist mit dem Wilhelminapier Rotterdams repräsentatives „Mini-Manhattan“ entstanden, wo bekannte Architekten wie Rem Koolhaas, Norman Foster, Alvaro Siza und Renzo Piano vertreten sind. Das letzte freie Baugrundstück wird bald von MVRDVs „The Sax“, einem multifunktionalen Wohngebäude, vervollständigt werden.
Auch Amsterdam hat moderne Architektur zu bieten, allerdings etwas außerhalb der Altstadt. Zum Beispiel das Büroviertel „Zuidas“ im Süden der Stadt oder die Gebiete um den Hauptbahnhof nördlich der Altstadt, an beiden Seiten des großen Flusses „Ijs“. Die Nachfrage nach hochwertigem Wohnraum nahe zur Innenstadt ist hoch und deshalb kann in Amsterdam im Moment teuer gebaut werden. Das sieht man auch an MVRDV-Projekten wie „The Valley“, einem in den Zuidas geplantem Wohn- und Bürogebäude mit aufwendigen Glas- und Natursteinfassaden. Wie eine Berglandschaft reckt sich das Gebäude in die Höhe.
Aufstrebendes Rotterdam
In Rotterdam hingegen musste es bis vor ein paar Jahren günstig sein. Vielleicht ist es gerade dieser Druck, der zu Einfallsreichtum führte. So ist zum Beispiel die eindrucksvolle Markthalle von MVRDV nur durch die Verbindung zweier Typologien rentabel, da sie sich gegenseitig unterstützen. Der Wohnkomplex formt das Dach der Halle. Aber in Rotterdam wird es langsam teurer: Seit 2014 – auch durch die Eröffnung der Markthalle, die zu kontinuierlichen Besucherrekorden beigetragen hat – wandelt sich der Wohnungsmarkt rasant. Viel neuer Wohnraum für mittlere und hohe Einkommensklassen entsteht rund um den Wilhelminapier, der auch die weiter südlich gelegenen Gebiete, wie das ehemalige Rotlichtviertel Katendrecht positiv beeinflusst. In einer alten Lagerhalle entstand zum Beispiel die hippe und teure„Fenix Food Factory“, ein lokaler Foodmarket. Insgesamt hat sich das Kultur- und Freizeitangebot in Rotterdam vergrößert.
Die Hafen- und Arbeiterstadt ist im Wandel zum Positiven und das rasend schnell. Junge Architekten, Designer und Künstler haben sie bereits erobert.
Obwohl ich Amsterdam’s Nachtleben und die vielen Museen sehr genossen habe, fühle ich mich inzwischen in Rotterdam deutlich wohler – hier gehöre ich hin, zwischen die internationalen Kreativen, in einer Stadt in der nicht alles ganz perfekt sein muss.