Große Gesten, differenzierte Innenwelten
Die schmale, lange Seine-Insel Île Seguin hat einen dramatischen Wandel hinter sich. Früher bebaut mit einer großen Autofabrik, steht der Ort heute ganz im Zeichen der Musik. Der japanische Architekt Shigeru Ban hat hier ein Musikzentrum errichtet, das Künstler, Feingeister und Musikinteressierte auf die Insel holen soll. Auffälligstes Zeichen: Eine abgeflachte, gläserne Kugel, die wie ein geblähtes SegelSegel: Tuchbahnen oder Membranen, die als Sonnenschutz oder Wetterschutz eingesetzt werden. über der flachen Betonsubstruktur thront.
Eben diese aufgesetzte gläserne Kugel gibt dem Betrachter zunächst Rätsel auf. Was mag sie enthalten? Ihre Funktion erklärt sich erst während eines Rundgangs durch den Komplex.
Kernstücke des Projekts sind zwei große und in ihrer Anlage ganz unterschiedliche Konzertsäle, von denen der kleinere das Innere der Kugel einnimmt. Er bietet 1150 Zuhörern Platz und ist besonders auf die Aufführung klassischer Musikstücke hin optimiert. Der andere Saal, die „Grande Seine“, liegt gegenüber im östlichen Bereich des Komplexes und direkt am Haupteingang. Fächerförmig angelegt und mit steil ansteigenden Tribünen, ist er auf Pop- und Rockkonzerte zugeschnitten; er fasst bis zu 6.000 Personen und verfügt zudem über eine besonders großzügige Bühne.
Ein Haus im Haus
Über die Haupterschließungsachse, die „Grande Rue“, gelangt man vom Gebäudeeingang zum kleineren Saal in der Kuppel. Nähert man sich dem „Auditorium“ – so der Name der Spielstätte – auf diesem Weg, wird deutlich, dass es sich hier um eine eigenständige Haus-im-Haus-Konstruktion handelt.
Das introvertierte Saalvolumen ist umgeben von lichten Wandelgängen und umschlossen von einer transparenten GebäudehülleGebäudehülle: die äußere Hülle eines Gebäudes, die aus Dach, Wänden und Fenstern besteht und als Barriere gegen Wärme oder Kälte dient. Die Gebäudehülle ist im Wesentlichen die äußere Umhüllung eines Gebäudes, die es vor Witterungseinflüssen und Umwelteinflüssen schützt. Jedes Gebäude verfügt über eine Gebäudehülle, die aus vielen verschiedenen Teilen besteht…. mit hexagonal aufgebautem Holztragwerk. Die selbsttragende Holzkonstruktion, als Freiform auf ovalem Grundriss, ist aus Brettschichtholzelementen gefügt und wurde mittels Parametrisierung und CNC-Fertigung realisiert. Bemerkenswert ist ihre Größe – 27 Meter Höhe, 70 Meter Durchmesser in der Längs-, 45 Meter in der Querachse – ebenso wie ihre Konstruktion: Die 3.300 Einzelteile sind großteils mittels Überblattungen wie ein 3D-Steckpuzzle zur Gesamtform zusammengesetzt. Das Sechseckmuster entsteht dabei aus den doppelt gekrümmten Holzträgern, die sich an den Knotenpunkten durchdringen.
Schwebendes Glas-Ei versus technoider Schutzschild
Zwischen der Betonschale des Saals und der Holz-Glas-Hülle entfaltet sich ein reizvoller, breiter Flaniergang, eine außergewöhnliche Raumschöpfung mit weitem Ausblick über die Seine – bis sich die mächtige Stahlkonstruktion des Sonnensegels ins Bild schiebt.
Das dreieckige, geschwungene Schalensegment verschattet partiell die FassadeFassade: Die äußere Hülle eines Gebäudes, die als Witterungsschutz dient und das Erscheinungsbild des Gebäudes prägt., verringert den Kühlbedarf und erzeugt Strom. Die ästhetische Qualität dieses Elements mit seiner technoiden konstruktiven „Innenleben“ jedoch wurde bei der Fertigstellung der Seine Musicale im Jahr 2017 kontrovers diskutiert.
Ausweis der Nachhaltigkeit
Dabei ist der Ansatz durchaus zu begrüßen: Das Segel ist Bestandteil des Umweltverträglichkeits- und Energiekonzepts des Gebäudes. Bereits im Wettbewerb hatte der Bauherr seinen Wunsch nach einer großflächigen PV-Anlage vorgegeben. Anstatt diese einfach auf dem Dach zu platzieren, entwarf Shigeru Ban das dreieckige mobile „Segel“, das dem Sonnenverlauf folgt und so die Stromerzeugung effizienter macht.
Gleichzeitig verändert sich mit dem Tageslauf der SchattenSchatten: Eine dunkle oder abgedunkelte Fläche, die durch Abschattung oder Blockierung des Tageslichts entsteht., der auf die Glasfassade und in die Wandelgänge um den Konzertsaal fällt. Hier entfalten sich vielgestaltige Licht- und Schattenspiele mit den Spiegelungen im Fluss und den Reflexionen des grün schimmernden Mosaiks der Saalwand.
Alle Fotos: Didier Boy de la Tour.