23.04.2020

Event

Kapital – Homeoffice-Kulturtipp

HO­ME­OF­FICE-KUL­TUR­TI­PP: Buch (ILLUS­TRA­TI­ON: JURI AGO­STI­NEL­LI)


Flaneur durch die Pepys Road

Keine Sorge, an dieser Stelle empfehlen wir Ihnen nicht Karl Marx Standardwerk. Ein Buch zum Kapitalismus ist es aber trotzdem, allerdings von dem britischen Autor John Lanchester. Es handelt von Geld, Macht und der Finanzkrise, ist allerdings etwas lockerer zu lesen.

Der Roman Kapital aus dem Jahr 2012 blickt in die Lebenswelten von unterschiedlichen Bewohnern ein und derselben Londoner Straße: der Pepys Road. Das Ganze spielt über einige Monate in den Jahren 2007 und 2008, kurz vor dem Bankrott der Lehmannbank. Die Pepys Road steht exemplarisch für die gentrifizierte Stadt: Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Häuser ursprünglich für gehobene Angestellte errichtet. Ein Jahrhundert später lassen sich immer mehr Akademiker und Manager dort nieder und treiben damit die Preise der Londoner Häuser in die Höhe. Doch einige der ursprünglichen Bewohner leben noch dort. 

Als Leser flaniert man gemeinsam mit Lanchester durch die Straße und wirft einen Blick hinter die Haustüren und die unterschiedlichen Charaktere, die dort leben: Zum Beispiel der Banker, dessen Gedanken sichden ganzen Tag nur darum drehen, wie er bloß den hohen Lebensstandard seiner Frau Arabella finanzieren soll. Oder Freddy, ein aufsteigender Fußballstar, der aus dem Senegal nach London zog, um für einen weltberühmten Verein zu spielen. Auch Petunia, eine alte verwitwete Dame, lebt in der Pepys Road und das schon seit 50 Jahren.  

Episodenhaft blickt der Leser in die Lebenswelten der unterschiedlichen Protagonisten, die auf den ersten Blick nichts gemein haben, außer, dass sie sich in derselben Straße aufhalten. Die Bewohner der Pepys Road haben aber alle eines gemeinsam: „Sie waren reich, weil wie durch ein Wunder alle Häuser in der Straße nun Millionen von Pfund wert waren.“ 

„Wir wollen was ihr habt.“ 

Es scheint eine heile Welt zu sein, das Leben in der Pepys Road. Bis die Bewohner der Straße eines Tages Postkarten in ihren Briefkästen finden. Darauf abgebildet ist die jeweils eigene Haustür und es steht nur ein Satz darauf: „Wir wollen was Ihr habt“. Damit kann anfangs niemand etwas anfangen, denn wer will schon was die Bewohner haben? Die alte Dame Petunia fragt sich zurecht, wer schon, wie sie, alleine leben möchte.  

Doch die Karten scheinen der Vorbote einer viel größeren Katastrophe zu sein: Der Finanzkrise, die sich Schritt für Schritt nähert und die Leben der Bewohner auf den Kopf stellt. Denn so unterschiedlich die Protagonisten sind, so unterschiedlich ist auch ihr Verhältnis zu Geld. Der Autor setzt Menschen mit Geldsummen ins Verhältnis, um aufzuzeigen, wie tief die Protagonisten fallen werden. Macht sich der Banker Roger am Anfang des Romans noch Sorgen, ob er dieses Jahr endlich den Bonus mit den sechs Nullen bekommt, rätselt er zum Schluss, wie lange er sich die 30 Pfund für das Taxi noch leisten kann.  

Beim Lesen entsteht dabei das Gefühl, ein komplexes Gemälde zu betrachten, deren Details sich einem erst bei genauem Hinsehen offenbaren. John Lanchesters Bildnis ist ein Porträt der westlichen Gesellschaft zu Zeiten der Finanzkrise. Er schafft es, aus etwas so abstraktem wie Aktienkursen und Banken, die in die Insolvenz rutschen, unmittelbare Auswirkungen auf die Menschen aufzuzeigen.  

Hier finden Sie den letzten Homeoffice-Kulturtipp: MIES.

Scroll to Top