Für den belgischen Eisenbahnnetzbetreiber Infrabel hat das Rotterdamer Architekturbüro Kempe Thill eine Akademie für die Berufsausbildung errichtet. Der Neubau ist Teil eines Stadtentwicklungsprojektes entlang der Gleisanlagen in Brüssel.
Brüssels Westbahnhof Molenbeek erfährt eine Aufwertung in Sachen Funktion und Infrastruktur. Das belgische Infrastruktur-Unternehmen Infrabel errichtete dort den Sitz seiner hauseigenen Ausbildungs-Akademie, Freiraum inklusive. Sie ist Teil einer groß angelegten Stadtteilentwicklung Brüssels entlang der innerstädtischen Bahnanlagen. Ein großer Vorteil des Standortes, neben der bereits vorhandenen Infrastruktur sowie der direkten Nähe der Ausbildungsstätte zur Praxis, ist natürlich, dass Auszubildende und Angestellte mit dem Zug anreisen können. Parkplätze für Pkw sind nicht nötig. Verantwortlich für die Infrabel Academy zeichnen die Architekten von Atelier Kempe Thill mit Sitz in Rotterdam. Sie gewannen den 2016 ausgelobten Wettbewerb in einer Kollaboration mit Canevas architectes et ingénieurs.
Akademie für Gleisnetzbetreiber Infrabel
Der horizontal ausgerichtete Baukörper liegt sauber eingefügt zwischen langgestreckten Lagerhallen und der Bahntrasse. Die vormals brachliegende Freifläche ist nunmehr Heimat der theoretischen und praktischen Ausbildungsstätte von Infrabel. Hier wird das Personal ausgebildet, um unter anderem Gleise, Signalanlagen und Oberleitungen landesweit in Schuss halten zu können. Durch das neue Ausbildungszentrum will aber Infrabel auch insgesamt als Ausbilder attraktiver werden, der Nachwuchs soll schließlich eine Schlüsselrolle in der Erhaltung und Weiterentwicklung einer nachhaltigen Mobilität übernehmen. Geplant ist darüber hinaus ein öffentlicher Park mit qualitativen Aufenthaltsflächen, der vermittels einer Fußgängerbrücke über die Gleise mit dem Neubau verbunden werden wird.
Im neuen Hauptgebäude des insgesamt fast 8.500 Quadratmeter großen Projekts trifft der funktionale Anspruch an der Architektur auf den technischen Anspruch des Infrastrukturwesens. Die Höhenentwicklung der Infrabel Academy entspricht dabei weitestgehend der direkten Umgebung. Man verzichtete aufgrund statischer Überlegungen auf ein hohes, punktförmiges Gebäude, das dem Areal auch optisch nicht gut zu Gesicht gestanden hätte. Stattdessen entwarf Atelier Kempe Thill einen zurückhaltenden, liegenden Quader mit einer begrünten fünften FassadeFassade: Die äußere Hülle eines Gebäudes, die als Witterungsschutz dient und das Erscheinungsbild des Gebäudes prägt.. Mittig gekrönt wird das Gebäude durch die aufsitzende Gebäudetechnik, die sich teils zwischen Sheddach-Formen präsentiert, welche Anleihen am Industriecharakter der Umgebung nehmen.
Klassische Moderne
Dennoch hinkt das fertige Gebäude dem ursprünglichen Rendering bezüglich der Plastizität hinterher. Die Dramatik der stark dreidimensionalen FassadeFassade: Die äußere Hülle eines Gebäudes, die als Witterungsschutz dient und das Erscheinungsbild des Gebäudes prägt. wurde nicht vollständig in die Realität mitgenommen. Sehr gelungen ist dagegen der disziplinierte und geordnete Ausdruck des Gebäudes und seines Außenraums. Um das zu erreichen, haben Kempe Thill notwendige Einrichtungen wie eine Fahrradabstellanlage in die Kubatur des Gebäudes integriert. Dieser Minimalismus täuscht schnell über die planerischen Herausforderungen bei der Konzeption des Gebäudes hinweg. Von außen unsichtbar etwa ist die unterirdische Ebene des Gebäudes, wo sich die Bahngleise befinden. Zudem fußt der Bau samt Gleisebene auch insgesamt auch auf dem Tunnel der noch tiefer verlaufenden Metro. Der Neubau der Infrabel-Akademie erforderte also nicht nur eine ausgeklügelte Statik, sondern durfte auch nicht zu viel Gewicht besitzen. Außerdem mussten die Architekten die Vibrationen und den Lärmist eine unerwünschte und störende Geräuschbelastung. Er kann zu Stress, Schlafstörungen und anderen gesundheitlichen Problemen führen., den die Gleisanlagen erzeugen, berücksichtigen.
Dreischiffig und zweiflüglig
Die Grundrisse der Infrabel-Akademie zeigen eine Art „dreischiffige“ Raumstruktur. Die Begegnungszonen befinden sich im „Mittelschiff“, von dem aus links und rechts die Klassenräume abgehen. Außer für die firmeninternen Ausbildung nutzt Infrabel die Academy auch für Kongresse und andere Veranstaltung. Dafür haben Kempe Thill die Raumstrukturen flexibel gestaltet. Im Inneren der Akademie zeichnen die Farbe Weiß und SichtbetonSichtbeton: Ein Beton, der von außen sichtbar bleibt und dessen Oberfläche eine ästhetische Wirkung erzielt. das Bild der rationalen Technik weiter. Farbige Elemente gibt es lediglich in Form von Mobiliar. In den großen, aufgeräumten AtrienAtrien: Atrien sind Innenhöfe oder Lichthöfe in Gebäuden. Sie dienen der Belüftung und Beleuchtung des Innenraums und können auch dekorative Zwecke erfüllen. wird das Sheddach als OberlichtOberlicht: Ein Oberlicht ist ein Fenster in der Decke, das Tageslicht in den Raum lässt. erfahrbar. TageslichtTageslicht: Natürliches Licht, das während des Tages durch die Fenster oder Oberlichter in ein Gebäude strömt. gelangt bis ins Erdgeschoss geleitet und schafft dadurch auch im großzügigen Erschließungskern einen Bezug nach außen.
Funktional gliedert sich die Infrabel-Akademie in zwei Hauptbereiche. In einem wird die Theorie, im anderen die Praxis unterrichtet. Aufgrund dieser räumlich gewünschten Trennung entwarfen Kempe Thill eine durchgesteckte Eingangssituation. So kann man das Gebäude komplett queren, ohne die Lehrbeteiche zu betreten. Von diesem Durchgang aus erreichen Besucher beide Teile der Akademie. Im Inneren gibt es insgesamt drei AtrienAtrien: Atrien sind Innenhöfe oder Lichthöfe in Gebäuden. Sie dienen der Belüftung und Beleuchtung des Innenraums und können auch dekorative Zwecke erfüllen., um die die Architekten die theoretischen Unterrichtsräume im Obergeschoss gruppiert haben. Im Erdgeschoss befinden sich hauptsächlich praktische Unterrichtsräume. Diese profitieren von der Nähe zu den Gleisanlagen und der Praxishalle, so wie die Infrabel-Akademie insgesamt von ihrer direkten Umgebung profitiert – und umgekehrt.
Das vorbildliche Wohnprojekt „Spijkerkwartier“ in Arnheim von Atelier Kempe Thill stellen wir im Baumeister 9/2021 vor.