26.01.2017

Portrait

Exkursion ins Raue

Hafenstädte liegen nicht unbedingt am Wasser. Zumindest erscheint einem das so, wenn man Brest besucht. Die ganze Anlage der Stadt an der nordwestlichsten Spitze Frankreichs ist auf einen Fjord-ähnlichen Meeresarm ausgerichtet, der sich hier in den Fels schneidet. Schnurgerade, und für die immer etwas sonntäglich ausgestorben wirkende Stadt deutlich überdimensioniert, zieht sich die zentrale Rue de Siam vom Rathaus den Hang hinab in Richtung des Meers. Doch dann bricht die Achse jäh ab. Erlaubt noch einen Blick auf den Wasserspiegel. Zwanzig Meter tiefer leuchtet der. Doch vor dem plötzlichen Geländeabbruch und dem Meer ist ein Zaun, dessen Abschluss zwei Reihen Stacheldraht bilden. „Zone militaire“ steht daran.

Küstenwanderweg und Ilot des Capucins 1850
Ilot des Capucins 1850 vom Schlauchboot
Atelier des Capucins und Marinebasis Brest
Atlantikwall bei Camaret & Studenten
Atlantikwall bei Camaret
Bunkeranlagen von 1850 und Atlantikwall bei Camaret
Marinebasis Brest dahinter Atelier des Capucins

Ein Gewitter aus Eisen, Stahl und Blut

Die Marine ist der Grund, weshalb Brest existiert, und zugleich ist sie der Grund, weshalb Brest eigentlich nicht am Wasser liegt. Die vor Atlantikstürmen wie Engländern gleichermaßen sichere Bucht vor der Stadt und der versteckte, davon abzweigende Fjord mit großzügigem Tiefgang brachte schon die Berater Ludwigs XIV. im 17. Jahrhundert darauf, hier die Flotte anzusiedeln. Und so liegen bis heute Kriegsschiffe entlang der Penfeld, wie dieser in den Stadtgrundriss eingefädelte Meeresarm heißt. Blau leuchtet das Wasser auf dem Stadtplan, der den wenigen Bretagne-Touristen ausgegeben wird, die hierher kommen. Doch grau umrandet wird es von einer Fläche, die als „Base navale“ bezeichnet ist: Marinebasis. Unterhalb des malerisch am Ufer aufragenden Château reihen sich ebenso graue Boote am Quai. Im stadtseitigen Teil des Schlosses befindet sich das nationale Marinemuseum. Auf der sonnigen Seite, zum Meer hin, sitzt in einem Anbau aus den 1950er Jahren das Oberkommando der Marine. Dem Besucher wird der Blick in die Vergangenheit geöffnet, der Blick auf die Jetztzeit und aufs Meer ist dem Militär vorbehalten.

Brest ist eine Stadtgründung von außen, aus nationalem Interesse, es war nie ein Hafen mit Hinterland. Wenn Brest seine Existenz der Marine verdankt, so auch seinen Untergang. Nachdem die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg Brest und die Marinebasis kampflos übernommen hatten, bauten sie diese mit einem riesigen U-Boot-Bunker am westlichen Ende des Militärgebiets aus. Die massiven Hallen, die parallele Bootsliegeplätze umschließen, wirken mit ihrem aufs Meer auskragenden Dach bei aller Betonbehäbigkeit wundersam dynamisch. Zynischerweise sind sie so ziemlich das einzige, was die sechswöchige Bombardierung Brests durch die Alliierten 1944 überstand. Ein „orage de fer, d’acier, de sang“, ein Gewitter aus Eisen, Stahl und Blut, so schrieb es Jacques Prévert in seinem Gedicht Barbara, das der Sänger Yves Montand zu einem der bekanntesten und berührendsten Chansons Frankreichs machte. „Brest – dont il ne reste rien“, lautet dessen letzte Zeile: Brest, von dem nichts übrig blieb.

Mögen solche Zerstörungen anderswo (und zumal im Marshallplan-finanzierten Nachkriegsdeutschland) Anlass gewesen sein, eine neue offene Stadt mit beschwingtem Grundriss zu erfinden, so nicht in Brest. Der die Rekonstruktion verantwortende Stadtplaner Jean-Baptiste Mathon scheint militärische Strenge zum Genius loci erkoren zu haben. Das rigide Raster der Straßen verkündet ein Ordnung-Muss-Sein, das im Land des savoir vivre fehlplatziert wirkt. In seiner Planimetriegläubigkeit verweist es gleichwohl auf die École des Beaux-Arts, an der Mathon lehrte. Deren Pläne fanden selten an topographischen Versprüngen Gefallen, und so setzte Mathon alles daran, den erheblichen Geländeabfall zwischen dem Platz ums Rathaus und dem Meeresspiegel so gut es ging durch Auffüllen mit Kriegsschutt zu eliminieren. Zwanzig Meter hoch ragen seither die Rückhaltewälle um die Penfeld. Wenn der Zugang zum Meer wegen der Marine nie einfach war, so ist er seither vollkommen unmöglich.

Atelier des Capucins

Und doch gibt es nun, 50 Jahre nach Rekonstruktion der Stadt, Aussicht auf mehr als nur Mauerschauen aufs Meer. Die Marine beginnt sich aus der Innenstadt zurückzuziehen und will ihre Aktivitäten in Zukunft auf den längst viel umfangreicheren Teil der Basis im Westteil der Stadt konzentrieren. Am Fuß des Schlosses wurde ein Jachthafen eröffnet, im noch genutzten Handels- und Fischereihafen am Südrand der Innenstadt haben Restaurants in Hafenbeckennähe aufgemacht, und einen imposanten Industriebau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts hat das Militär der Zivilverwaltung überlassen. Hier, im Atelier des Capucins, sind in einstigen Stahlbearbeitungshallen lichte Räume entstanden, eine Mediathek und ein Kino eröffnen demnächst, und wo man die unvermeidliche Shopping Mall erwarten würde, hat die sozialistische Stadtregierung einfach einen riesigen, überdachten öffentlichen Raum geschaffen, der den Bürgern zur Aneignung offensteht. Was daraus wird, muss sich erst noch zeigen: Eine eigens erbaute Seilbahn, die das Publikum von der Innenstadt über den Fjord in den erneuerten Altbau befördern soll, musste nach einem fulminanten Eröffnungswochenende wegen technischer Probleme auf unbekannte Zeit schließen, und ohne diese ist der Bau so gut wie abgeschnitten. Unten im Fjord werden derweil noch Zerstörer repariert, in Trockendocks, deren Errichtung bis auf den legendären Festungsbaumeister des Sonnenkönigs Vauban zurückgeht.

Die Kontinuität der militärischen Vereinnahmung von Brest und der umgebenden bretonischen Küste kann nur erstaunen. Das betrifft nicht nur die innerstädtischen Quais und den U-Boot-Bunker der deutschen Besatzungsmacht wenige hundert Meter vom Marinehafen aus dem 17. Jahrhundert. Selbst der deutsche Atlantikwall, die in den 1940er Jahren entstandenen Bunkeranlagen an der Küste, sind nicht ohne Vorläufer. Die Geschichte dieser gigantomanen Serie von Geschützstellungen, Beobachtungsposten und Munitonslagern, die sich die gesamte Nordsee- und Atlantikküste entlang zieht, wird bis heute gern im zwielichtigen Ton nicht ganz verholener Bewunderung und in Tausender-Kubimeterzahlen von innerhalb kürzester Zeit verbautem Beton geschrieben. Doch in ihrer Positionierung mit Blick auf die unsichere Weite des Meeres waren die Bauten der NS-Besatzung selten die ersten an ihrer Stelle. Schon im frühen 19. Jahrhundert zeigten Seekarten der Gegend um Brest kreissegmentförmige Batterien, also Kanonenpositionen, zusammen mit trapezähnlichen Bereichen im Meer davor, die sie beschießen konnten. Da war kein unbeschadetes Durchkommen durch die Meeresenge, die die Bucht von Brest mit dem Atlantik verbindet. Dass Badetouristen sich im Sommer auf der Halbinsel von Crozon, im Süden gegenüber der Stadt, nicht unwohl fühlen, auch wenn sie hier und da eine der wundersamen NS-Betonfestungen kaum übersehen können, liegt wohl nur daran, dass sie nie weit hinausschwimmen. Wer aber im Boot die Küste entlangfährt, sieht sich im Visier zahlloser schwarzer Öffnungen von Befestigungsanlagen, deren Bauzeit vom frühen 17. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkriegs reicht. Und beim Wandern entlang des Küstenwegs (durchgängig als sentier côtier oder Grande Randonnée 34 ausgeschildert) begegnet man bisweilen jungen französischen Kadetten, die sich für Übungen mit Funkgerät und Maschinenpistole in verfallenen deutschen Stellungen positionieren. Das spitzzackige barocke Fort von Quélern beherbergt noch heute eine Kaserne, und am in den Atlantik vorstoßenden Kap von Toulinguet umschließt eine napolenische Befestigungsmauer mit einem militärhistorisch berühmten Turm von 1811 nach wie vor gesperrtes Militärgebiet. Allein die Tour Vauban im Hafen von Camaret-sur-Mer, die der Festungsbaumeister nicht nur plante, sondern 1694 auch persönlich gegen einen Angriff der Engländer verteidigte, ist nurmehr pittoresk ins Meer gesetztes Monument vergangener Kämpfe. Der wenig weiter gelegene Strand von Trez Rouz allerdings verdankt seinen nach rot (rouge) klingenden Namen angeblich dem Blut der mehr als tausend dort getöteten englischen Soldaten.

Furchteinflößende Bunker

Im Vorwort seines 1975 erschienen Buchs Bunker archéologie schreibt der 1932 geborene Architekt und Publizist Paul Virilio, wie die Küsten Frankreichs während seiner Kindheit unzugängliches Sperrgebiet waren. Als sich ihm im Sommer 1945 die Weite des Meeres eröffnete, ließ ihn die Konfrontation damit nicht mehr los. Als einer der ersten widmete er sich den Bunkerbauten der Deutschen, und damit einer zuvor gern übersehenen Architektur. Einen doppelten Ausdruck der Furcht erkannte Virilio in den wundersam abgerundeten Betonbauwerken, die mit ihren sparsamen, wohlkalkulierten Öffnungen archaisch anmuten. Die Bunker der NS-Besatzungsmacht, so Virilio, seien nicht nur furchteinflößend, sie seien ebenso sehr Ausdruck der Furcht derer, die sich darin verschanzten. Einen verzweifelten Versuch, mit der Unberechenbarkeit und Wildheit des Meers und seiner Ungeheuer zurechtzukommen, sieht Virilio im Atlantikwall, das vorgezeichnete Ende der Blut-und-Boden-Ideologie angesichts der Küste. Tatsächlich hinterlässt nicht nur die Masse (und Dicke) der Bauten bei einem heutigen Besucher den stärksten Eindruck, sondern deren Immobilität. Hier sollte, scheint es, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn ein Besatzungsstatus zementiert werden. Doch diese Besatzung überstand ihre eigenen Konstruktionen, größtenteils realisiert zwischen 1942 und 1944, um nur wenige Monate.

Sollte die französische Marine sich, wie vage angekündigt, tatsächlich im Laufe der kommenden Jahre von den Ufern der Penfeld im Zentrum von Brest zurückziehen, dann wäre Brest wieder eine Stadt am Meer. Dass dieser gleichwohl die Finanzkraft fehlt, dieses Ufer infrastrukturell zu entwickeln, ist das Dilemma einer Stadt, deren Wirtschaftsleistung bis heute zu vierzig Prozent vom Militär abhängt. Doch, eine gute Sache sei das Militär, versichert Yannick, der Reisende mit Spezialinteresse in seinem mit zwei 250-PS-Außenbordern ausgestatteten Schlauchboot auch mal entlang der Geschützstellungen des Meers entlangfährt. Lieber aber fahre er hinaus auf die Inseln Molène und Ouessant, ergänzt er. Chacun a son truc, jeder hat so seine Begeisterung.

 

Gemeinsam mit Dietrich Erben und einer Gruppe von Architekturstudenten der Technischen Universität München war Erik Wegerhoff vom 1. bis 5. Dezember 2016 auf Exkursion in der Brest und Camaret-sur-Mer in der Bretagne. „Dicke Mauern“ war der Titel eines Seminars am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design, das sich mit Befestigungsanlagen, Grenzen und der Architektur der Angst auseinandersetzte – von den Festungen der Renaissance bis zum Zaun von Calais.

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