17.10.2018

Portrait

Erdichtete Glaspaläste: Paul Scheerbart (1863–1915)

Paul Scheerbart


Glas als Protagonist

Architektur und Literatur – auf den ersten Blick scheint die beiden Felder wenig miteinander zu verbinden. Anfang des 20. Jahrhunderts aber waren literarische Texte ein wichtiges Experimentierfeld für die Entwurfsideen der architektonischen Avantgarde. Unbehindert durch statische oder finanzielle Einschränkungen konnten hier ästhetische Visionen entwickelt werden, die baulich niemals umsetzbar gewesen wären.

Auch für den zukunftsweisenden Werkstoff Glas – zu Beginn der Moderne noch ein schwer zu handhabendes Spezialmaterial, das nur selten im größeren Stil verbaut wurde – wurden die Einsatzmöglichkeiten zunächst im Medium der Literatur ausgelotet. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Werk von Paul Scheerbart (1863–1915) – einem Autor, dessen Name heute vergessen ist, auch wenn seine Schriften die Entwicklung der modernen Architektur nachhaltig beeinflusst haben.

Ganz im Zeichen architektonischer Visionen steht Scheerbarts Asteroiden-Roman „Lesabéndio“ von 1913, in dem der Bau einer zehn Meilen hohen Turmkonstruktion auf einem extraterrestrischen Asteroiden beschrieben wird. Ziel dieser Konstruktion soll sein, die Geheimnisse des Himmels zu erfahren und darüber hinaus eine Verbindung zwischen dem Höheren und dem Asteroiden durch die Architektur herzustellen.

Dass Architektur – insbesondere Glasarchitektur – auch kultur- und gesundheitsfördernde Eigenschaften hat, beschreibt Scheerbart in seinem ,Damenroman‘ von 1914 „Das graue Tuch und zehn Prozent weiß“. Indem die ganze Welt mit visionärer Glasarchitektur überzogen wird, kann die Bevölkerung gebessert und glücklich gemacht werden.


Paul_Scheerbart_-_Lesabendio,_1913
Paul Scheerbarts Roman Lesabendio in der Originalausgabe von 1913.

Taut_Glass_Pavilion_exterior_1914
Scheerbarts Architekturvisionen inspirierten Bruno Tauts „Glashaus“ von 1914.

Aus Fiktion wird reale Architektur

Die architektonischen Szenerien dieser Werke, besonders aber Scheerbarts 1914 entstandene Programmschrift „Glasarchitektur, eine Glasbautheorie verfasst in 111 Kapiteln“, erregten die Aufmerksamkeit von Architekten, die eine klare Loslösung von alten Bautraditionen und die vermehrte Integration von Glas in den Bau forderten. Allen voran der deutsche Architekt Bruno Taut, der im Sommer 1913 Scheerbart kennenlernte und ihm die Anregung zu seinem berühmten, auf der Werkbundausstellung von 1914 gezeigten „Glashaus“ verdankte. Für den Fries des Glashauses dichtete Scheerbart insgesamt 16 Sinnsprüche für das Bauen mit Glas, von denen sechs als Inschriften am Glashaus angebracht wurden. Scheerbart sah in Tauts Realisation das gebaute Manifest seiner Glasarchitektur.

Ein Jahr später verstarb Paul Scheerbart im Alter von 52 Jahren. Seine visionären literarischen Architekturen wirkten aber weit über seinen Tod hinaus und inspirierten zahlreiche Architekten in den folgenden Jahren zu expressionistischen und futuristischen Baukonzepten. Wiederum ist es Bruno Taut zu verdanken, dass dieses Gedankengut und das Nachwirken Scheerbarts auf die Architektur innerhalb der Zeitschrift „Frühlicht“ (1920–1922) gesammelt wurde.

Scheerbart, der trotz dieser Bemühungen beim Publikum in Vergessenheit geraten ist, findet heutzutage vor allem seitens der Architekturgeschichte oder aufgrund seiner expressionistisch-grotesken Zeichnungen Beachtung. Als großem Anreger der modernen Glasarchitektur ist ihm ein Platz in der Kulturgeschichte der Moderne sicher.

Zur Autorin: Amelie Mussack studierte  Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft an der LMU München. Sie promoviert am Graduiertenkolleg der Universität Freiburg „Faktuales und fiktionales Erzählen“ zu den utopischen Traditionen in Paul Scheerbarts dichterischem Werk.

Alle Bilder: Wikimedia Commons.

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