12.11.2019

Portrait

Die Kraft der Erinnerung

„Mein Mann war ein sehr naturfreundlicher Mensch. Wir haben uns einen Schrebergarten gemietet

Wie kann Wohnen im Alter aussehen? Diese Frage stellen sich die jungen Münchner Architektinnen Jana Wunderlich und Victoria Schweyer mit ihrer Initiative pflücken, bei der sie Erinnerungsorten nachspüren.

Jana Wunderlich (links) und Victoria Schweyer spüren mit ihrer Initiative „pflücken“ Erinnerungsorten nach. Foto: Anna Jacob
„Jedes Haus hat vor dem Haus eine Bank. Auf der Bank bin ich gesessen, da ging bei uns am Haus eine Gasse vorbei. Mein Onkel, da wo ich gewohnt habe, war Fassbinder, das war die Bindergasse, darum hieß es das Binderhaus. Wenn ich auf der Bank gesessen bin, da gingen immer Leute vorbei, die ins Dorf gegangen sind. Und dann ist geratscht worden. Mit jedem, der vorbei gegangen ist, hat man geratscht: Setz dich her, ratsch ma a weng.“
„Mein Mann war ein sehr naturfreundlicher Mensch. Wir haben uns einen Schrebergarten gemietet, in der Holzkirchnerstraße. Den hatte ich 45 Jahre. Ich habe jede Blume gekannt, das war so schön.“

Besondere Orte

Architektur und Alter – das ist oft eine schwierige Kombination, gerade wenn es um eine der grundlegenden Funktionen des Wohnens geht: eine Behausung zu schaffen, die Geborgenheit und eine vertraute Umgebung bietet. Das Altersheim ist oft der letzte Abschnitt in der Wohngeschichte des jeweiligen Bewohners, und in der Regel zögern Angehörige die dortige Unterbringung so lange wie möglich heraus.

Aber was braucht es, damit das Altersheim nicht als Endstation, sondern als Ort mit Wohnqualitäten empfunden wird? Und wie sollten Wohnformen im Alter aussehen? Die beiden jungen Architektinnen Jana Wunderlich und Victoria Schweyer aus München beschäftigen sich mit genau diesen Fragen.

In ihrer Initiative „pflücken“ spüren sie der Erinnerungskraft von Architektur nach: Materialien, Texturen, Gerüchen, Farben – alles, was die Atmosphäre eines Ortes ausmacht, den eine Person mit schönen Erinnerungen verbindet. Der Name „pflücken“ dient dabei als Metapher für ihre Vorgehensweise, indem die Architektinnen bestimmte Erinnerungen pflücken und in einem bunten Strauß anordnen. Dieser phänomenologische Ansatz bildet die Grundlage für Workshops, die Wunderlich und Schweyer in Altersheimen veranstalten. „Was wir machen, ist eine Art partizipative Architektur, mit der Besonderheit, dass wir mit alten Menschen arbeiten. Wir glauben, dass Altersheime, wie sie derzeit funktionieren, nicht die richtige Lösung sind. Um zu verstehen, was die Menschen dort brauchen, muss man vor Ort sein und mit ihnen reden“, sagt Jana Wunderlich über ihre Initiative. Victoria Schweyer ergänzt: „Alte Leute sind oft extrem interessante Menschen, die schon viel gesehen haben und von denen wir viel lernen können.“

Ein Beispiel dafür ist das Caritas-Altenheim St. Franziskus im Münchner Stadtteil Untergiesing. Dort setzten sich die beiden Architektinnen mit den Bewohnern zusammen, um über positive Erinnerungen an persönliche Orte zu sprechen – und um daraus eine architektonische Intervention vor Ort abzuleiten. Unterstützt wurden sie dabei von der Heimleiterin Michaela Stern und den sozialen Begleitern Martina Kiy, Leopold Föhringer und Dagmar Mühlhausen, die darauf achteten, dass niemand außer Acht gelassen wird oder dass sich keiner der Bewohner überanstrengt. Auf Grundlage ihrer Erinnerungen fertigten die Bewohner dann Zeichnungen an.

Gleichzeitig transkribierten Wunderlich und Schweyer die damit verbundenen Erzählungen in kurze Geschichten, zum Beispiel Beispiel die von der Bindergasse: „Jedes Haus hat vor dem Haus eine Bank. Auf der Bank bin ich gesessen, da ging bei uns am Haus eine Gasse vorbei. Mein Onkel, da wo ich gewohnt habe, war Fassbinder, das war die Bindergasse, darum hieß es das Binderhaus. Wenn ich auf der Bank gesessen bin, da gingen immer Leute vorbei, die ins Dorf gegangen sind. Und dann ist geratscht worden. Mit jedem, der vorbei gegangen ist, hat man geratscht: Setz dich her, ratsch ma a weng.“

Den kompletten Artikel über die Initiative pflücken finden Sie in unserer aktuellen Baumeister-Ausgabe 11/2019.

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