Plan und Wirklichkeit
Im fünften und letzten Teil unserer Serie zu Planstädten in China wendet sich Dieter Hassenpflug in interkultureller Perspektive der von GMP entworfenen Neustadt Lingang im Südosten Shanghais zu. Mit seinen Kommentaren zu diesem Idealstadtentwurf endet eine Abfolge von kritischen Betrachtungen, deren Hauptanliegen die Sensibilisierung für die interkulturellen Herausforderungen ist, denen Architekten, Städtebauer und Stadtplaner gegenüberstehen, wenn sie sich im globalen Kontext außerhalb ihrer gewohnten – und darum immer auch prägenden – soziokulturellen Milieus bewegen.
Lingang, die Planstadt für ca. 800 Tausend zukünftiger Bewohner nach einem Entwurf von GMP im Südosten von Shanghai, ist kreisrund. Das gilt auch für den Dishui See, der das ungewöhnliche Zentrum der Stadt bildet. Bei einem Durchmesser von etwa 3 Kilometer beträgt der Kreisumfang des Gewässers ca. 9 Kilometer. Die reale Uferlänge ist aufgrund von in den See hineinragenden Auskragungen oder künstlichen Halbinseln natürlich etwas größer, vielleicht knapp 10 Kilometer. Das bauliche Zentrum der Planstadt wird durch drei konzentrische Ringstraßen gebildet. Die AbständeDie Abstände beziehen sich auf die Distanz zwischen verschiedenen Elementen oder Komponenten innerhalb der Architektur oder des Designs. Diese Abstände werden oft in Plänen und Skizzen berücksichtigt und können eine wichtige Rolle bei der Funktionalität sowie der Ästhetik eines Gebäudes spielen. zwischen diesen Hauptstraßen betragen jeweils ca. 500 Meter. Während die beiden inneren Ringstraßen den Raum für das ringförmige Stadtzentrum, den Central Business District (CBD) bilden, geben die beiden äußeren Ringstraßen Raum für eine gleichfalls ringförmige Grünzone, für einen pittoresk gestalteten, von Gewässern durchzogenen Ringpark. Man sollte sich vor Augen führen, dass die Länge bzw. Ausdehnung des ring- bzw. radförmigen Stadtzentrums die Länge von 10 km deutlich übertrifft. Das sind enorme Dimensionen, die bereits im Rahmen der Arbeit an den Masterplänen hätten auffallen und zur Vorsicht bei der baulichen Realisierung mahnen müssen.
Durchschnitten werden die genannten ringförmigen Stadträume von radial verlaufenden Achsen, deren Aufgabe es ist, Zentrum und Peripherie der Planstadt auf direktem Wege miteinander zu verbinden. In den ursprünglichen Entwürfen lassen sich 8 Achsen identifizieren, davon vier nach den Haupt-Himmelsrichtungen Nord, Süd, West und Ost ausgerichtet und vier jeweils mittig dazwischen. Auf diese Weise entstehen zunächst 8 Kreisausschnitte (Kreissektoren oder auch Ringabschnitte), die allerdings von jeweils einer weiteren rangniedrigeren Radialstraße in der Mitte geteilt werden. Durch diese symmetrische Anordnung der Radialstraßen resultieren am Ende 16 tortenstückartige Kreissektoren. Diese bilden letztlich die trapezförmigen Quartierszonen von Lingang.¹
A prima vista handelt es sich um einen ästhetisch ansprechenden Entwurf, der nachvollziehen lässt, warum Jury und Entscheider sich von den GMP-Architekten haben überzeugen lassen. Die Entscheidung der Fachleute, den Entwurf Wirklichkeit werden zu lassen, enthält jedoch zwei fragwürdige Annahmen. Die erste ist fachlicher Natur und betrifft das Maßstabsverhältnis von Plan und Realität; denn was im Maßstab 1:1000 oder vergleichbar plausibel, vernünftig, kohärent oder auch ästhetisch ansprechend erscheint, kann als gebaute Wirklichkeit, also im Maßstab 1:1 unvernünftig sein, inkohärent und sogar dysfunktional. Die zweite Annahme ist kultureller Provenienz und betrifft den schwer auflösbaren Widerspruch zwischen einer radialkonzentrischen Grundstruktur und einer sozial erwünschten und gesetzlich vorgeschriebenen Südorientierung.
Greifen wir einen Aspekt aus dem Masterplan von Lingang heraus: Im Planmaßstab wirken die konzentrischen Straßen in ihrer, die ideale Form stützenden Geometrie alles andere als deplatziert. In der Wirklichkeit ist der Radius der konzentrischen Straßen jedoch so groß, dass der Kreisbogen der Straßen kaum wahrnehmbar ist. Dies gilt natürlich umso mehr, je weiter diese Straßen vom Zentrum entfern sind. Diese äußeren Straßen wirken fast wie gerade Achsen und man muss schon sehr genau hinschauen, um deren Krümmung zu erkennen.
Oder nehmen wir das in den Plänen immer wieder durchgezeichnete Stadtzentrum: Wer nur auf den Plan schaut, mag denken: “interessante Idee, ein radförmiges Stadtzentrum, eine CBD wie ein Saturnring”. Warum nicht? Wechselt man jedoch auf die 1:1-Maßstabsebene, dann sieht die Angelegenheit etwas anders aus. Für Menschen, etwa Frauen mit Kinderwagen oder Senioren, die ein Stadtzentrum für Einkäufe und andere alltägliche Erledigungen aufsuchen, können Fußmärsche von 500-800 m bereits in Arbeit ausarten (weshalb z.B. in Frequenzstudien des Einzelhandels Entfernungen von #300 m gern als Richtwert für fußläufige Erschließungssysteme betrachtet werden). Selbst begeisterungsfähige Stadttouristen dürften mit der fußläufigen Eroberung von 10 km Stadtraum überfordert sein. Kein Wunder, dass aktuelle Rahmenpläne der Innenstadt von Lingang die Überbauung von allenfalls einem Bruchteil des Zentralringes vorsehen, von maximal 30% der verfügbaren Fläche. Ein Blick auf den aktuellen Rahmenplan (s.o.) zeigt, dass dieser bebaute “Ringbogen” Teil eines westlichen und nördlichen Kreisausschnitts ist, der offenbar die Fläche der zukünftigen Stadt Lingang ausmachen wird. Die Bebauung der gesamten verfügbaren Kreisfläche ist offenbar nicht mehr vorgesehen – mit entsprechenden Auswirkungen auf die projektierte Einwohnerzahl.
Vergleichbares wie für den Innenstadtring dürfte auch für den Zentralsee gelten. Das Gewässer ist so ausgedehnt, dass es den Stadtraum in der Wahrnehmung eher auflöst als zusammenhält, eher trennt als verbindet. Um als Element des Stadtraumes rezipierbar zu sein und mit seinen Uferflächen als öffentlicher städtischer Begegnungsraum zu funktionieren, sollte er deutlich kleiner sein. Er ließe sich dann visuell besser erfassen und in den städtischen Kontext integrieren. Es ist so gesehen wenig überraschend, dass der Zentralsee von Lingang insbesondere dort als öffentlicher Aufenthaltsraum frequentiert wird, wo in den See hinein kragende Flächen existieren. Diese begünstigen die sinnliche Erfassbarkeit des Raums, machen ihn begreifbar und begehbar.
Europäische Idealstädte als Problem
Das zweite fundamentale Problem betrifft die interkulturelle Dimension von Städtebau und Stadtplanung. Und hier ist die Ausgangslage ziemlich klar: Die Geometrie der westlichen Idealstadt funktioniert in China schlecht, ganz gleich, ob es um eine kleine oder große Stadt (wie Lingang) geht. Der Grundriss von Lingang ließe sich vielleicht in Europa realisieren, wenn die barocken oder absolutistischen Rahmenbedingungen dafür existieren würden. Er würde dann auch leidlich funktionieren – allerdings wohl nur in einer dramatisch geschrumpften Version. In China behindert ein radialkonzentrischer Plan jedoch grundsätzlich den erfolgreichen Bau einer Stadt, ganz gleich, wie groß sie sein soll. Denn diese Grundform kann nicht nur den Wünschen der prospektiven Bewohner nicht gerecht werden, sondern sie wird auch von den chinesischen Stadtbaugesetzen nicht unterstützt.
Sieht man einmal ab von dem kreisrunden See, der das Zentrum bildet, verweist der Plan auf die in der Regel von sternförmig gezackten Festungsmauern umschlossenen Idealstädte, wie sie zu Zeiten der Renaissance zuerst in Italien entworfen wurden. Einige dieser frühneuzeitlichen Planstädte, deren Hauptanliegen die Optimierung der Festungsanlagen mit Blick auf neue, effizientere Waffentechnik war, wurden im Zeitalter des Absolutismus auch gebaut. In Deutschland sind dies beispielsweise Karlsruhe, Mannheim, Glückstadt oder auch Freudenstadt.