Im vierten Beitrag unserer fünfteiligen Serie zu Planstädten in China wendet sich Dieter Hassenpflug unter dem Motto “Anting Reloaded” der von AS+P entworfenen Neustadt in Shanghai zu. Um Anting, vor geraumer Zeit noch ein viel beachtetes Sujet des nach China blickenden Feuilletons, ist es in den letzten Jahren still geworden. Zeit für eine Wiedervorlage, für einen erneuten Blick auf die inzwischen fertig gebaute Stadt.
Seit einigen Jahren schon scheint der Hype um die deutsche Stadt Anting in den deutschen Medien weitgehend abgeklungen. Es sieht so aus, als sei alles Wesentliche zu diesem spektakulären städtebaulichen Projekt gesagt worden. Die Gründe für die fortdauernden Leerstände, für die überall sichtbaren Qualitätsmängel wurden ebenso erörtert, wie die Zukunftsfähigkeit der Siedlung. Von spärlichen Ausnahmen abgesehen, in denen von Inkompetenz und Korruption seitens der chinesischen Projektentwickler oder von kulturbedingten Eigenarten potenzieller chinesischer Bewohner (“Aberglaube”) die Rede war, schien man sich im Feuilleton weitgehend auf die folgenden Ursachen für die dramatischen Leerstände zu verständigen: Effektive Anbindungen an das öffentliche Verkehrsnetz würden fehlen, beim Bau von Kindergärten und Schulen sei es zu erheblichen Verzögerungen gekommen, teilweise schlechte Bauausführung (Fensterist eine Öffnung in der Wand eines Gebäudes, die Licht, Luft und Blick nach draußen ermöglicht. Es gibt verschiedene Arten von Fenstern, die sich in Größe, Form und Material unterscheiden können. Das Fenster ist ein wesentlicher Bestandteil der Gebäudearchitektur und hat sowohl funktionale als auch ästhetische Bedeutung. Es ist eine…, die beim Aufmachen herausfallen, rostende Treppengeländer usw.) hätten Imageschäden verursacht und schließlich seien auch die Wohnungspreise ‘nicht von schlechten Eltern’. Dies alles habe die zügige Besiedlung der ja eigentlich attraktiven neuen Stadt behindert. Da die genannten Missstände jedoch zu beheben seien und die regulatorische Kraft des Wohnungsmarktes ein Übriges zur Aktivierung des Zuzugs beitragen werde, sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Menschen von den Vorzügen der deutschen Stadt mit ihren bunten Häusern, den grünen Alleen, dem großzügigen Zentrum und vor allem von den Annehmlichkeiten der implementierten Klima- und Wärmetechnik (BlockheizkraftwerkBlockheizkraftwerk: Ein Blockheizkraftwerk (BHKW) erzeugt gleichzeitig Wärme und Strom aus einer Energiequelle. Es kann in Gebäuden zur Energieversorgung eingesetzt werden., Mehrfachverglasung, Gebäudedämmung, ZentralheizungEine Zentralheizung ist eine Heizanlage, bei der die Wärmeerzeugung zentralisiert ist, meist in einem separaten Heizraum. Das erwärmte Wasser oder Gas wird dann über Leitungen zu den Heizkörpern in den verschiedenen Räumen transportiert, um diese zu beheizen., Sonnenkollektoren, Solarpanels etc.) überzeugen lassen.
Und wo, was nicht gerade häufig geschah, auf spezielle Wünsche und Vorstellungen chinesischer Kunden eingegangen wurde, ermutigte man sich auch schon mal mit der Hoffnung, dass die Chinesen sich an die räumlichen und ästhetischen Eigentümlichkeiten der deutschen Stadt noch ‘gewöhnen’ würden. Hinzu käme, dass Anting etwas Besonderes sei, eine Planstadt, die für selbstbewusste Bürger ein beachtliches Potential an Distinktionsmöglichkeiten biete. Dennoch klingt es wie Pfeifen im Walde, wenn erst in jüngster Zeit, im April 2018, einer der an leitender Stelle verantwortlichen Architekten aus dem Hause AS+P vermeldet, Anting könne sich zu einem “Juwel” vor den Toren Shanghais entwickeln, nachdem nunmehr Verkehrserschließung und öffentliche Infrastruktur vorhanden seien.¹ Es fragt sich allerdings, ob dieser Optimismus berechtigt ist, ob er sich durch Fakten unterlegen lässt. Tatsache ist, dass im Frühjahr 2016 erst 20% der Wohnungen des ersten Bauabschnitts verkauft waren, ein für chinesische Verhältnisse ungewöhnlich schlechter Wert. Auch ist Anting Neustadt, wie noch ausführlich beschrieben wird, noch weit von einer funktionierenden Stadt entfernt. Davon zeugen schon bei flüchtiger Betrachtung die ‘blinden’, leeren und verstaubten Fenster zahlreicher leerstehender Einzelhandelsflächen und Wohnungen im ersten Bauabschnitt, die drückende Abwesenheit von Menschen auf Straßen und Plätzen des ansonsten so dicht besiedelten, wuseligen chinesischen Stadtraums. Dabei sind die Anbindungen an das öffentliche Nahverkehrssystem, einschließlich Metro (seit 2014), mittlerweile sehr gut, Schulen und Kindergärten sind im Umfeld verfügbar, Einkaufsmöglichkeiten sind in Reichweite und sogar die Wohnungspreise sind für Shanghaier Verhältnisse moderat.
Warum aber “funktioniert” Anting trotz der inzwischen vorhandenen leistungsfähigen Infrastruktur immer noch nicht wie ein normales chinesisches Stadtquartier? Und weshalb mag sich immer noch keine Hoffnung auf nachhaltige Besserung einstellen? Der wichtigste Grund ist, so meine Hypothese, jener eklatante Mangel an interkultureller Kompetenz, der sich in dem Masterplan von Anting Neustadt manifestiert. So wurden durch diesen deutsche Lebens- gewohnheiten, Raumansprüche, Sichtweisen und Bewertungsmaßstäbe in ein Land projiziert, das in seinen Städten völlig andere Lebensgewohnheiten, Raumansprüche, Sichtweisen und Bewertungsmaßstäbe materialisiert. Projektives Sehen vermag jedoch nur zu erkennen, was ihm bereits bekannt und vertraut ist. Nicht zufällig liest man in westlichen Berichten von einer “Perle”, einer “schönen” oder auch “attraktiven” Stadt, deren Charme man sich nur schwer entziehen könne. Umso rätselhafter allerdings erscheint vor diesem Hintergrund, dass kaum Menschen in die Stadt ziehen und diese allmählich zu verwahrlosen droht. Aber so ist es mit der Projektion: sie kann ihren Gegenstand nicht er- bzw. begreifen. Sie ersetzt ihn durch Wunschwirklichkeiten. Der erwähnte Optimismus hinsichtlich der Zukunft von Anting erscheint demnach ebenso verständlich wie haltlos.