Extreme Gegensätze. Und doch Grundvoraussetzung für den besonderen Weg, den Barkow Leibinger im Verlauf ihrer Karriere gehen würden. Nach ersten Erfolgen bei Wettbewerben und der Entscheidung der Rezession in den USA und der Enge Stuttgarts den Rücken zu kehren, eröffneten die beiden im von Kunst, Musik, Fotografie und gesellschaftlichem Aufbruch durchpulsten Post-Wende Berlin ein gemeinsames Büro. In Regines alter Einzimmerwohnung in Schöneberg. Der Durchbruch kam 1998 mit der Laserfabrik für den Maschinenbauer Trumpf in Ditzingen bei Stuttgart, jenes Familienunternehmen, in dessen Führung Regine Leibinger der „Droge Architektur“ wegen nicht eingetreten war. Ihr Beitrag ist das Bauen.
Wenn auch durch familiäre Bande gestärkt, so entstand hier doch eine Zusammenarbeit zwischen Industrie und Architektur, die für beiden Seiten ein wahrer Glücksfall ist. Wenn Frank Barkow und Regines Vater Berthold – Kunstliebhaber und selbst Inbegriff des schwäbischen Tüftlers und Bastlers – an einem Tisch saßen, sprühten nur so die Funken. „Berthold ist ein deutsches Genie“, schwärmt Barkow. „Er denkt wie ein Ingenieur und Dichter zugleich. Er hat uns einerseits Freiheit gegeben, aber auch Widerstand. Und über Trumpf haben wir überhaupt erst zum Metall gefunden.“
Trumpf in Stuttgart
Fast fühlt man sich an Walter Gropius erinnert, der für Carl Benscheid das heute berühmte Fagus-Werk in Alfeld baute. Erst der so genannte „Fagus-Knoten“ ermöglichte es Gropius, die Stahlkonstruktion durch zwei überkreuzte Träger zur Ecke auskragen zu lassen. Barkow Leibinger haben es in Zusammenarbeit mit dem renommierten Ingenieur Werner Sobek geschafft, dass das Dach der Hauptpforte fast 20 Meter frei über der Straße schwebt und die mächtige Dachkonstruktion der Trumpf-Kantine tatsächlich auf wenigen, filigran wirkenden Stahlstützen stehen kann Die polygonalen, teils verglasten Holzwaben im Dach wirken nicht nur heimelig, sie saugen auch die sonst so störenden Kantinengeräusche auf. Der Raum darunter kann sich in eine Galerie, ein Auditorium oder den Ort für die Weihnachtsfeier verwandeln. „Aber die Hauptsache ist, dass man dort Maultauschen essen kann, das ist ganz wichtig“, ergänzt Barkow.
Neue Technologien, Materialien und Fertigungsmethoden befruchten also die künstlerische Kreativität der Entwürfe von Barkow Leibinger. Aber es geht auch umgekehrt: Albert Kahns Ford-Werke in Detroit mit dem ersten Fließband der Welt läuteten den „Fordismus“ ein, der bekanntlich nicht nur die industrielle Fertigung, sondern die ganze Gesellschaft umkrempelte. Vielleicht wird man rückblickend auch Barkow Leibingers Smart Factory für Trumpf in Chicago als ein solch bahnbrechendes Industriegebäude ansehen. „Es ist das erste Gebäude, das nach den Prinzipen von Industrie 4.0, der digitalisierten, weltweit vernetzten Fertigung mit künstlicher Intelligenz, gebaut ist“, erklärt Regine Leibinger. Tatsächlich erinnern die riesigen Displays im Kontrollraum mit Blick über den Maschinenraum mit seinen Metallbiegemaschinen und Laserschneideanlagen an die Science-Fiction-Visionen aus Tom Cruises «Minority Report».
Als Gegenakzent zu so viel brillant-kühler Hightech ist die luftige Eingangshalle mit warmem Kiefernholz verkleidet, die FassadeFassade: Die äußere Hülle eines Gebäudes, die als Witterungsschutz dient und das Erscheinungsbild des Gebäudes prägt. dezent angerostet. Schließlich liegt Chicago am Rande des amerikanischen „rust belt“, dem heute brachliegenden Herzen der alten, amerikanischen Autoindustrie. „Die Architektur ist in gewisser Weise archaisch und fortschrittlich zugleich“, erklärt Barkow. „Wir knüpfen an die Materialien und die Ästhetik der amerikanischen Industriegeschichte an: StahlStahl: Ein Werkstoff, der aufgrund seiner hohen Belastbarkeit und Stabilität oft bei Gerüstkonstruktionen eingesetzt wird., Mies van der Rohe, die Konstruktion des amerikanischen Freeways, dessen Brücken und Schilder nach Donald Judd stilprägend für die amerikanische Kultur sind, und verbinden das mit den neuen Hightech-Prozessen in der Industrie 4.0. Das macht es für mich so interessant. Und natürlich sehr amerikanisch.“
Der gläserne Pavillon
Wie Barkow Leibinger Tradition, Handwerk, Digitalisierung und ästhetische Strenge zu einem künstlerischen Raumentwurf mit klarer Funktionalität verweben, offenbart auch ihr Pavillon für die American Academy in Berlin aus dem Jahr 2015. Der gläserne Bungalow bietet den Stipendiaten der Akademie herrlich-schlichte Arbeitsräume mit Blick auf den Großen Wannsee. Wie eine zeitgenössische Variation von Mies van der Rohes Farnsworth-Haus, allerdings mit einer komplizierten, gegeneinander versetzten Dachfigur aus Stahl. Die Idee hierzu mäanderte von einem marokkanischen Weber, der Barkow Leibinger sein jahrhundertealtes Handwerk zeigte, über Berlin, wo Mitarbeiter des Büros die TexturTextur: Die Oberflächenbeschaffenheit eines Materials. der Teppiche digitalisierten, skalierten und mit Hilfe von Algorithmen in eine gigantische Installation aus Baumstämmen und Baumwollfäden für die Marrakesch Biennale verwandelten. Elemente dieser hyperbolischen Struktur finden sich jetzt über den Köpfen der Fellows am Wannsee. „Dass sich Materialstudien oder Prototypen irgendwann in der gebauten Welt wiederfinden, ist unser Anliegen“, sagt Leibinger.
Vom Autodesign zum Wohnungsbau
„Wir verstehen unser Büro auch als Forschungsplattform“, sagt Frank Barkow. „Wenn wir bei einem Thema Potenzial erkennnen, nehmen wir es mit zu unserem Studenten nach Harvard und Princeton, wo wir auf extrem hohen Niveau daran arbeiten können.“ Aus einem utopischen textilen Autodesign etwa, das Chris Bangle für BMW entworfen hatte, wurden so in einem gemeinsamen Entwurfsseminar flexible, nachhaltige Strukturen für einen erschwinglichen Wohnungsbau. Wie im eigenen Büro ist es die dynamische Spannung, die Auseinandersetzung auf Augenhöhe, das Zweifeln und das Ringen nach der besten Lösung, was Barkow an der „harten Schule“ Harvard schätzt: „Ich brauche den Widerstand.“ „Diese jungen, sehr engagierten Amerikaner fordern mich“, bestätigt Leibinger. „Sie halten mich auf dem Stand der Dinge, was neue Technologien und Materialien angeht. Aber auch durch die Art, wie sie denken, was sie wissen.“ Die besten kommen dann mit nach Berlin, wo sie von der unvergleichlichen Kreativität dieser Stadt profitieren.
Das urbane Gewerbe Berlins
Berlins Chaos, das Experimentelle, das Künstlerische. Barkow Leibinger können sich keinen inspirierenderen Ort für ihr Büro vorstellen. Hier ist der Nährboden, um inspiriert durch die Windungen eines Kohls die abstrakt-organisch Holzkonstruktion des Sommerhauses Serpentine Gallery in London zu entwickeln. Nicht natürlich ohne den Umweg über die Modellwerkstatt, wo wie in einem Bauhaus-Vorkurs dünne Holzplatten und Karton zu Schlingen und Schlaufen gebogen und gestapelt wurden.