07.05.2014

Öffentlich

Abriss der Esso-Häuser: ein Hamburger Treppenwitz

Es ist ein besonders perfider Treppenwitz, dass ausgerechnet die Subkultur der Auslöser sein soll für das vorzeitige Ende der Esso-Häuser am Spielbudenplatz auf Hamburg-St. Pauli. In der Nacht zum 15. Dezember haben zwei Bewohner der Häuser Erschütterungen und Geräusche wahrgenommen und die Polizei alarmiert. Die vermutete eine akute Einsturzgefahr und räumte noch in der Nacht den gesamten Komplex – den Bewohnern blieb nicht einmal Zeit, das Allernötigste mitzunehmen. Als möglichen Auslöser für die Bewegung in den Gebäuden machten Statiker ein besonders lautes Konzert im legendären Kellerclub „Molotow“ aus. Seitdem ist alles abgesperrt, die Bewohner dürfen nicht mehr in ihre Wohnungen zurückkehren und sind notdürftig bei Freunden oder in Hotels untergekommen. Der Besitzer „Bayerische Hausbau“ hat derweil einen Abrissantrag gestellt und den Abriss bereits für Anfang 2014 terminiert.

So what? könnte man fragen. Der Abriss maroder Bauten aus der Zeit des Wiederaufbaus ist nichts Ungewöhnliches – zu selten rechnen sich Sanierung und Modernisierung. Doch dieses runtergekommene Ensemble aus der Nachkriegszeit im Herzen St. Paulis, bestehend aus zwei Wohnhochhäusern, einer Tiefgarage und einem zweistöckigen Gewerberiegel mit Clubs, Kneipen, Läden sowie der berühmten Tankstelle, ist in den letzten Jahren zum bundesweit beachteten Symbol im Kampf um eine „Stadt für Alle“ gegen Immobilienspekulation und Gentrifizierung geworden. Denn St. Pauli wandelt sich prototypisch vom Refugium für Arme, Migranten und Normativitäts-Flüchtlinge zum Mainstream-Entertainmentdistrikt mit Musicaltheatern, Designhotels und Luxusapartments. Dagegen kämpfen, phantasievoll und doch zumeist vergeblich, zahlreiche Initiativen, die sich im Bündnis „Recht auf Stadt“ zusammengeschlossen haben. Die „Esso Häuser“ mit ihren günstigen Kleinwohnungen, Kneipen und Clubs standen exemplarisch für eine Stadt der Nischen und Möglichkeiten – bis die Eigentümerfamilie, die auch die Tankstelle betreibt, den Komplex 2009 zu einem exorbitanten Preis an einen der größten Immobilienkonzerne des Landes, die Bayerische Hausbau, verkaufte. Die neuen Besitzer machten klar, dass sie die Altbauten zugunsten höher verdichteter Neubauten mit teuren Eigentumswohnungen abreißen wollten.
Seitdem kämpfen Bewohner und Initiativen gegen diesen Plan und stellten ihm eigene Ideen für eine Modernisierung und Weiterentwicklung der Gebäude entgegen. Ein vom Bezirk in Auftrag gegebenes Gutachten, das eine tiefgehende Schädigung der Bausubstanz und eine baldige Unbewohnbarkeit der Häuser attestierte, zerstörte jedoch bereits vor Monaten die Hoffnungen auf einen Erhalt. Dass es nun so schnell geht, nährt Argwohn und Verschwörungstheorien gegen Bezirksverwaltung und Investor. Immerhin sollen die Altmieter in die Neubauten zu gleichen Konditionen zurückkehren können und dann Tür an Tür mit wohlhabenden Yuppies und DINKS wohnen. Ob die Gewerbetreibenden, unter ihnen das Molotow, wieder Räume erhalten werden und die lange Durststrecke bis dahin überleben werden, steht in den Sternen.

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass sich die Häuser wenig eignen als Versuchsfeld für eine andere Form der Stadtentwicklung. Sie waren nicht nur durch jahrzehntelange mangelnde Instandhaltung verwahrlost, sondern mit unterdimensionierten Stützen und Decken bereits am statischen Limit erbaut worden. All die schönen Ideen, den Gebäuden durch Dämmungen, Umbauten und Erweiterungen eine Zukunft zu geben, waren also ohnehin zum Scheitern verurteilt. Das entlastet Alt- und Neueigentümer jedoch nicht von ihrer Verantwortung: Wie in den 1970er und -80er Jahren die Gründerzeithäuser, lassen heutige Spekulanten die Bauten der Nachkriegsjahrzehnte systematisch verwahrlosen, um sie dann für profitablere Neubauten abreißen zu können. Politik und Verwaltung sehen tatenlos zu, statt Gesetze zu verschärfen und konsequent anzuwenden. Der grundgesetzliche Passus „Eigentum verpflichtet“ besitzt keinerlei Folgen. Und es sind auch Verwaltung und Politik, die die Verantwortung für die Verödung und Kommerzialisierung einst gemischter, lebendiger Stadtviertel tragen. Beispiel St. Pauli: Der Verlust der Esso-Häuser wäre zu verschmerzen, wenn es genügend andere Rückzugsorte gäbe. Aber viel zu spät erst hat man begonnen, mit einer Sozialen Erhaltungsverordnung die Gentrifizierung aufzuhalten. Und dank einer verfehlten Stadtplanung wurden auf dem Kiez völlig deplatzierte Büro- und Hotelhochhäuser errichtet, etwa im unwirtlichen Bavaria-Quartier oder mit den „Tanzenden Türmen“ eingangs der Reeperbahn. Lauter verpasste Chancen, weil der Bezirk den Investorenprojekten nichts Eigenes entgegensetzen konnte oder wollte. Es wird Zeit, dass sich die Regierenden endlich alte und neue Handlungsspielräume erobern und nutzen, um die um sich greifende Kommerzialisierung, Segregation und Uniformität aufzuhalten. Vielleicht ist der durch den nahenden Abriss der Esso Häuser ausgelöste Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung der notwendige Weckruf.

Mit diesem Text starten wir eine neue Reihe an Gastkolumnen. Neben Claas Gefroi werden künftig auch der Autor Frank Rolf Werner und der Architekt Florian Fischer regelmäßig hier schreiben. Jeder mit eigener Tonalität, mit eigenem Schwerpunkt. Wir wünschen viel Freude beim Lesen und Mitdiskutieren.

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