21.04.2020

Event

“2312” von Kim Stanley Robinson – Homeoffice-Kulturtipp

HO­ME­OF­FICE-KUL­TUR­TI­PP: Buch (ILLUS­TRA­TI­ON: JURI AGO­STI­NEL­LI)


Es regnet wilde Tiere

Im Jahr 2312 ist das Ökosystem auf der Erde zusammengebrochen, New York ist ein amerikanisches Venedig und es regnet auch schon mal wilde Tiere. Das Science-Fiction-Whodunnit “2312” von Kim Stanley Robinson überzeugt nicht nur mit dem Setting, sondern auch mit schriftstellerischem Können und psychologischer Finesse. Und einer Neudefinition des Menschen.

Gleich vorweg – wer sich so intensiv mit dem Werk von Philip K. Dick befasst hat wie ein Kim Stanley Robinson (oder ein Uwe Anton), hat bei mir schon einen Stein im Brett. Und wie bei Dick, so ist auch bei Robinson eine humanistische Science Fiction im Mittelpunkt des Geschehens und weniger ihre technikfixierte oder gar militaristische Variante. In diesem Fall findet das Geschehen im Jahr 2312 statt (unserer Zeitrechnung, wohlgemerkt). Die SF (oder Sci-Fi, wie manche sie zu nennen sich herausnehmen) als Literatur ist ganz grundsätzlich damit befasst, eine andere Gegenwart aufzuzeigen, die aktuelle Tendenzen und Entwicklungen extrapoliert. Gerne werden sie zur Unterhaltung der Leser zugespitzt und in ein oftmals zukünftiges Setting projiziert.

Im Fall von “2312” (so auch der Buchtitel) umfasst dieses Setting unser gesamtes Sonnensystem, vom ultraheissen Orbit zwischen Sonne und Merkur bis hin zu den kühlen Gasgiganten weit draussen und dennoch in unserer näheren kosmischen Nachbarschaft. Hier schussern stellare Kieselsteine hin und her, die ausgehöhlt und in Rotation versetzt als Habitate dienen. Sie rasen durchs All mit allerlei seltsamen Menschen und Menschenabkömmlingen an Bord, ebenso Wesen, deren biologische Herkunft es im Rahmen der Handlung zu klären gilt. Und diese Handlung hat es in sich. Es ist ein raffiniertes Whodunnit, das im Cinemascope-Massstab mit psychologischer Finesse und schriftstellerischem Können vor den Augen des Lesers ausgebreitet wird.

Die Erde spielt auch eine Rolle. Sie ist ziemlich abgewrackt, das Ökosystem ist zusammengebrochen. New York geniesst ein zweites Leben als amerikanisches Venedig, dessen Bewohner aus Hochhäusern auf Kanäle und Fähren hinabblicken. Orbitalaufzüge verbinden die Erdoberfläche mit dem Weltall und werden auch gerne zum Schmuggeln missbraucht. Die Terraforming-Projekte, die zuerst den Mars, dann den Saturnmond Titan und in der laufenden Handlung die Venus erdähnlicher machen sollen, werden rückwirkend auf die kaputte Erde angewendet. Dies gipfelt in der wohl seltsamsten SF-Vision ever, als es buchstäblich wilde Tiere vom Himmel herab regnet. Mehr verrate ich nicht, man muss es selbst gelesen haben.

Neudefinition des Menschlichen

Wie gesagt, seltsame Menschen gibt es auch, doch sie sehen sich selbst nicht als ganz so seltsam an. Um im Weltall zu überleben sind sie sehr gross oder sehr klein und alle sowohl ein bisschen männlich als auch ein bisschen weiblich und dabei irgendwie beides. Sicherlich – wenn intelligente Maschinen und Gehirnteile von Tieren in ihren Köpfen einen Platz finden, mag uns das merkwürdig erscheinen. Doch es ist bemerkenswert, dass die damit verlaufende Neudefinition des Menschlichen uns zur Frage verleitet, was es denn eigentlich ist, das einen menschlich macht. Wie so oft erblicken wir in den anderen uns selbst. Und in Robinsons “2312” sind es ganz besondere “andere”.

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